Im März 2001 wurde Rosemarie Kretschmer für ihre großen Verdienste mit dem Silbernen Ehrenabzeichen des BdV und im November 2009 mit der BdV-Verdienstmedaille ausgezeichnet. Erst Anfang Mai 2021 hat der BdV Landesverband Hessen ein Video mit Rosemarie Kretschmer veröffentlicht, in dem sie über ihre Vertreibung berichtet. Am 11. Juni 2021 verstarb sie im Alter von 86 Jahren.
Den Erzählungen nach muss die Nacht des 22. Oktober 1934 in Römerstadt, einer kleinen Kreisstadt in Nordmähren, sehr eisig und nebelig gewesen sein, wo ich mit Hilfe der Hebamme und dem Primar Dr. Boese das Licht der Welt erblickte. Es war ein Montag. Rosemarie, Auguste, als erstes Kind der Eltern Auguste und Franz Hadwiger, ebenso als erstes Enkelkind beider Großelternseiten (Schubert und Hadwiger) war die Freude meiner Ankunft riesengroß. Am 24.10.1941 wurde meine Schwester Dorle geboren. Für mich eine „personelle“ Umstellung, nun nicht mehr der alleinige Mittelpunkt zu sein.
So durfte ich 6 Jahre der Mittelpunkt unter den Erwachsenen der Familie sein bis der erste neue Lebensabschnitt und Eintritt in die Schule 1940 begann. Ein täglicher Schulweg von je 30 Minuten, forderte neue Energie, besonders in den harten, schneereichen Wintermonaten als zartes, kleines Mädchen. Die ersten 4 Jahre besuchte ich die Mädchenvolksschule in Römerstadt, danach ein Jahr die Bürgerschule (früher Klosterschule) ebenfalls in Römerstadt, bis Kriegsende am 8. Mai 1945.
Danach begann für alle Menschen in unserem Land eine grausame Zeit der Menschenverachtung, Misshandlungen und schließlich die Vertreibung 1946 aus der Heimat. Mein Vater wurde inhaftiert und kam in das Lager Janowitz, das einstige Schloß des Grafen Harrach. Meine Mutter musste versuchen mit Arbeit in einer noch funktionierenden Werksküche Nahrung für uns drei zu bekommen und ich konnte keine deutsche Schule besuchen. Im August 1945 wurden wir zu dem ersten Transport in offenen Viehwaggons, als „Wilde Vertreibung“ bezeichnet, gemeinsam mit dem Eltern meiner Mutter gezwungen, jedoch im letzten Moment vor der Abfahrt wieder zurückgehalten. Es war ein unvergessener Abschied zwischen meiner Mutter und ihren Eltern auf ungewisse Zukunft. Meine Großeltern mussten in einem der 40 Waggons zurückbleiben.
Im September erhielten meine Mutter und viele andere Frauen den Befehl zur Zwangsarbeit in die Hanna für landwirtschaftliche Feldarbeit. Sie nahm uns Kinder mit. An die Baracken in Hodolein (Hanna), wo wir drei Wochen wie Freiwild und Misshandlungen zur täglichen Auswahl für die tschechischen Bauern hausten, erinnere ich mich bis heute mit Grauen. Inzwischen war mein Elternhaus in Römerstadt von einer tschechischen Familie (Ehepaar und ein 6-jähriges Kind) in Besitz genommen, wir drei durften nur im elterlichen Schlafzimmer wohnen.
Am 4.April 1946 kam der Vertreibungsbefehl. Am 8.April 1946 in Atzbach Kreis Wetzlar angekommen, konnten wir – 4 Personen – in einem 10 qm. großem Raum zwölf Wochen „wohnen“. Ab August 1946 besuchte ich bis zur mittleren Reife das Gymnasium für Mädchen in Wetzlar. Danach „verließen“ wir 7 katholische Vertriebenen-Mädchen die protestantische Klasse!
1951 begann ich eine Lehre als Sprechstundenhilfe bei einem Augenarzt in Giessen mit Verbleib bis zur Geburt des 1. Kindes 1960. Zwei Jahre zuvor schlossen Helmut Kretschmer und ich den Bund der Ehe. Er war ebenfalls Heimatvertriebener aus dem gleichen Heimatkreis. 1961 wurde unser zweites Kind geboren. Ab 1964 war ich wieder stundenweise berufstätig in verschiedenen Büros. Ab 1965 bis 1997 war ich in einem Kaufhaus als Chef-Sekretärin tätig. Danach begann für mich die vorgezogene Altersrente.
Ab 1974 – nach dem Tod meines Vaters – der sich von Anbeginn gegen das Unrecht unserer Vertreibung einsetzte – übernahm ich folgende ehrenamtliche Tätigkeiten: Zunächst als Schriftführerin des Heimatkreises Römerstadt e.V., ab 1984 auch Geschäftsführerin bis 1996, ab 1989 habe ich zusammen mit meinem Mann die redaktionelle Arbeit einschließlich Versand unserer Heimatzeitung „Römerstädter Ländchen“ mit 4890 Bezieher übernommen und bis 2007 fortgeführt.
2005 verstarb mein Ehemann.
Ehrenamtliche Tätigkeiten im Bund der Vertriebenen
Von 1997 – 2010 war ich 1. stellvertretende SL.-Bundesfrauenreferentin. Von 1983 (bis heute) wurde ich zur SL.-Landesfrauenreferentin Hessen, als Nachfolgerin von Frau Ilse Kölb in Wiesbaden gewählt; dazu gehörten 10 hessische SL.-Frauenarbeitskreise. 1984 wurde ich auch als BdV-Landesfrauenreferentin Hessen berufen und bin dies bis heute. Damit kam ich kraft Amtes in den erweiterten Landesvorstand des BdV Hessen und der SL Hessen. In dieser Funktion habe ich die sudetendeutschen Frauen aus Hessen im Frauenverband im BdV e.V. vertreten. Ich habe wechselnde Aufgaben im Beirat des Frauenverbandes wahrgenommen und gerne an den Tagungen teilgenommen. Die Inhalte habe ich in meine Arbeitskreise weitergetragen. Gleichzeitig war ich auch Frauenreferentin der Heimatlandschaft (HL) Altvater/Nordmähren und Kontaktperson zu den Heimatverbliebenen. Auf SL.- und BdV-Kreisebene Wetzlar war ich ab 1980 Schriftführerin, ab 1985 BdV-Geschäftsführerin, von 2000 – 2015 erste Vorsitzende des BdV-Ortsverbandes Wetzlar; seit 2015 bin ich stellvertretende Vorsitzende des BdV.-Ortsverbandes. Seit 2008 bin ich Vorsitzende der SL.-Heimatlandschaft ALTVATER.
Beginnend von 1975 bis zur politischen Wende haben wir (mein Mann und ich) jedes Jahr 120 vorweihnachtliche Pakete an unsere Landsleute in der DDR und in der Tschechoslowakei verschickt; d. h. einschließlich Einkauf der Waren. Später bekamen wir auch vom Hilfsring Rübezahl Nürnberg finanzielle Hilfe. Der Warenwert eines jeden Paketes war ca. 25,00 DM. Die Waren wurden im Lebensmittelgroßmarkt eingekauft. Als Absender wurden Verwandte, Nachbarn und Freunde angegeben. Deswegen wurden wir vor einer Reise in die DDR gewarnt. Wir standen auf der roten Liste.
Als Schriftführerin beim Heimatkreis Römerstadt organisierte ich Veranstaltungen und koordinierte die Termine für die Treffen. Als Ortsbetreuerin (bis heute) der Stadt Römerstadt erstelle ich für die Heimatzeitung die Geburtstagsliste der Landsleute, pflege Kontakte mit den Heimatvertriebenen und Heimatverbliebenen – hier auch als Frauenbeauftragte für Römerstadt. Ebenso halte ich den Kontakt mit der Patenstadt Zell am Main und mit der dort vor drei Jahren eingerichteten Heimatstube. Die redaktionelle Tätigkeit unserer Heimatzeitung „Römerstädter Ländchen“ erforderte einen regelmäßigen Schriftverkehr zwischen den jeweiligen Ortsbetreuern und der Druckerei, die den Umbruch in den letzten Jahren per Computer erhielt. Die Heimatzeitung erschien alle zwei Monate und wurde von meinem Mann zum Postversand gebracht.
Viel Freude bereitete mir der Kontakt als SL- und später auch als BdV-Landesfrauenreferentin mit den Damen auf Kreis- und auf Bundesebene. Mindestens zweimal jährlich trafen wir uns zu einem Gedankenaustausch mit Referenten und gaben den Frauen neue Informationen für ihre Tätigkeiten. Unser Arbeitsfeld wurde aus drei tragenden Säulen aufgebaut: „Politisch aktiv, Kultur bewahrend und soziale Tätigkeiten.“ Jede Frauenreferentin konnte ihre Prioritäten nach dem örtlichen Bedarf setzen. Die Jahresberichte fielen dementsprechend sehr unterschiedlich aus. Leider haben sich in Hessen bis auf vier oder fünf Gruppen die Frauenarbeitskreise aufgelöst, weil die Damen gezwungenermaßen andere Ehrenämter in ihren Vorständen angenommen haben. Da es sich bei den SL- und BdV-Gruppen überwiegend um die gleichen Damen handelte, sind die Auflösungsprobleme die gleichen.
Erstmals 2018 musste ich ein geplantes Wochenend-Seminar in Wiesbaden absagen, da sich nur fünf Damen angemeldet hatten. Ich war darüber sehr traurig und enttäuscht. Abschließend möchte ich gerne über die traditionelle Klöppel- und Werkwoche im DJO-Heim in Rodholz/Poppenhausen berichten, die seit 30 Jahren einmal jährlich stattfindet und immer wieder mit Begeisterung angenommen wird. Gegründet von Frau Ilse Köbl, auch langjährige SL-Frauenreferentin in Hessen, die beim Bau des DJO-Heimes mitgeholfen hat. Wahrscheinlich fand 1979 die erste Klöppelwoche statt. Später wurde sie als auf Bastel-, Werk- und Klöppelwoche weitergeführt. Seit vielen Jahren wird in dieser Woche ein freundschaftlicher Kontakt mit den Landesfrauen der Rhön gepflegt. Es finden wechselseitige Besuche statt. Dabei werden die gefertigten Klöppelarbeiten bestaunt und bewundert.
Was ist mir im Leben wichtig?
- Familie: Bereits als Kind war mir die sichere Umgebung innerhalb der Familie sehr wichtig, wohl auch resultiert durch die Vertreibung aus der Heimat und Verlust von Freunden und Angehörigen. Liebe und gegenseitiges Verständnis gehört dazu.
- Heimat: „Wenn du in der Fremde bist, weißt du wie schön die Heimat ist“
Dieser Spruch bestätigt besonders uns Heimatvertriebenen mit jedem Wort den Wert der Heimat. Als Schülerin erlebte ich bereits die Ausgrenzung und teilweise Missachtung als Katholikin. Auch die besonders finanzielle Notlage war vor der Vertreibung aus der Heimat nicht vorhanden. Bereits 1965 besuchten mein Mann und ich unsere gemeinsame Heimat. Sie war uns plötzlich ganz fremd aber auch wieder sehr bekannt und nah! Ein unvergessliches Gefühl! Seit 1988 bis 2012 besuchte ich jährlich mit einer Busgruppe unsere Altvater-Heimat. Immer mit einem gewissen „Heimweh“. Anlässlich unseres 50. Geburtstag – 1985 – besuchte ich mit meinen ehemaligen Schulkameradinnen und –Kameraden per Bus unsere Heimatstadt. Obwohl wir uns fast 40 Jahre nicht gesehen hatten, waren wir uns nicht fremd, besuchten unsere Schulklassen und damaligen Ausflugsziele; Unvergessen! Es ist nach wie vor unsere HEIMAT!
- Gesundheit: Dieses Gut schätzt wohl jeder Mensch erst ab einem gewissen Alter oder wenn die Krankheit in der Familie Sorgen bereitet. Auch da ist Familie und Heimat wichtig, um gesundheitliche Tiefstände schnell und mit Kraft und Zuversicht zu meistern.
Was möchte ich den jungen Menschen mit auf den Weg geben?
Obwohl gerade in den letzten 50 Jahren der Generationswechsel mit großen Unterschieden verbunden war und ist, gilt auch hier nach wie vor Familie, Heimat und Gesundheit als besonders wichtig. Ein fester Halt und Vertrauen in der Familie, ein Ort der Geborgenheit und Umgebung – wo ein junger Mensch neue Kraft tanken kann – bietet die Heimat. Dies wiederum trägt zur Gesundung schneller und leichter bei.
Ich vermisse bei der heutigen Jugend die Geselligkeit. Wohl bedingt durch die viele Technik wie Internet, Computer, Handy usw. aber auch den z.T. selbst erzeugten Stress, der zu diesen 3 fehlenden Punkten führt. Ein gewisser Bedarf an Geselligkeit zeigt die große jährliche Teilnahme bei den Jugend-Kirchentagen.
Ein Punkt zum Nachdenken!
„Dem Alten die Ehr“ mit Rosemarie Kretschmer ist erstmalig im Tagungsband 2018 erschienen. Unsere Publikationen finden Sie hier.
Nachwort von Maria Werthan
Vor ungefähr zehn Jahren begegnete ich Frau Rosemarie Kretschmer zum ersten Mal in einer Mitgliederversammlung des Frauenverbandes. Jede ihrer Stellungnahmen verdeutlichte ihre tiefe Heimatverbundenheit und ihre Sachkenntnis in der Vertriebenenarbeit. Das flößte mir großen Respekt ein. Als sie dann nach meinem Wechsel in die Verbandsspitze mit leuchtenden Augen und mit stets wacher Aufmerksamkeit bei den von mir geleiteten Tagungen präsent war, ebnete sich der Weg für eine stetige Zwiesprache. Ich konnte sie um Rat und um Informationen bitten. Sie berichtete über ihre vielseitigen Aktivitäten in unterschiedlichen BdV-Gremien mit allen Schattierungen vom Erfolg bis zu den unvermeidbaren Schrammen. Auch die Freude mit ihren Enkelkindern sparte sie nicht aus. Gerne erinnere ich mich an ein besonderes Gespräch. Während einer Tagung sagte sie: „Heute gehe ich zum Rendezvous“. Lächelnd erwiderte ich: „Genehmigt, wenn Du mir über den Ausgang erzählst.“ Als sie wieder kam erzählte sie: „Es war schön und traurig zugleich; mein ehemaliger Klassenkamerad sitzt im Rollstuhl.“ Mir wurde in dem Moment klar, da steht eine Frau vor mir, die weiß, was für ein Schatz gute Beziehungen zu den Mitmenschen sind. Und ich konnte Freude und Trauer mit ihr teilen.
Gerne hätte ich ein Interview mit Frau Kretschmer für diesen Bericht geführt. Wegen der längeren Krankheitsphase von ihr, war uns ein gemeinsames Gespräch (außer telefonisch) nicht gegönnt. Wir werden das Gespräch nachholen. Der aussagekräftige und gut gegliederte Bericht stammt aus der Feder von Frau Kretschmer.
Jetzt frage ich mich, was fasziniert mich an Rosemarie Kretschmer? Es ist ihre starke Heimatbindung, ihre Verwurzelung in der Familie, ihre Bindung an die Schicksalsgemeinschaft und die Mitmenschen sowie ihr unbedingtes Engagement für die genannten Gemeinschaften und ihre christlichen Werte. Dafür setzt sie sich mit wachem Geist und mit nie ruhenden Händen ein. Mit Händen, die unaufhörlich klöppeln, basteln oder Modeschmuck kreieren. In dieser Rosemarie steckt jedoch noch viel mehr; da ist die Aufgeschlossenheit für die neue Computertechnologien und für den Umgang mit WhatsApp, vor allem aber viel Lebensmut und Lebensfreude. Deswegen bewundere ich sie.
Verehrte Frau Kretschmer, Landesfrauenreferentin in Hessen, liebe Rosemarie, wir vertriebenen Frauen sagen DANKE für den vorbildlichen und unermüdlichen, jahrzehntelangen ehrenamtlichen Einsatz für die Vertriebenen und im Besonderen für die vertriebenen Frauen! Wir freuen uns über Ihre/Deine aktive Präsenz im Frauenverband Wir wünschen Ihnen/Dir Gesundheit und noch viel, viel mehr Lebensmut und Freude inmitten Deiner Familie und Schicksalsgemeinschaft!
Herzlichst
Maria Werthan
Präsidentin Frauenverband im BdV e.V.