Dem Alter die Ehr

Dr. Helga Engshuber

Lebensbericht und Reflexion von Frau Dr. jur. Helga Engshuber, Leitende Oberstaatsanwältin a.D.

Geworden-Sein

Kriegsbedingt bin ich ohne Vater aufgewachsen. Daher hatte meine Mutter ungeheuren Einfluss auf mich. Ich begriff zu spät, dass sie eigentlich ohne Leben lebte. Ihre drei Kinder und ihre Arbeit trugen sie, mehr Freude als Belastung. Ihre Arbeit war tagesfüllend, vom Verstand getragen. Für uns Kinder wagte sie Blicke in die Zukunft, aber für sich? Ihr Umgang beschränkte sich neben ihrer Herkunftsfamilie auf die alten Freunde meines Vaters; nie interessierte sie sich für einen Menschen außerhalb dieser Kreise, nie suchte oder gewann sie eine/n neue/n Freund/in. Die Entwicklung zu moderneren Zeiten nahm sie nicht wahr. Sie galt als charakterlich gefestigt und wurde allseits bewundert. Aus welcher Kraft steuerte sie ihr Leben? War es wirklich allein die Pflege des Bildes unseres kriegsverschollenen Vaters?

Wie sollte ich ins Leben wachsen als Anhängsel eines Funktionsmenschen, der für sich selbst nicht lebte? Ich öffnete ihr mein Herz und meine Seele, auch die Gedanken und Empfindungen, die ich eigentlich selbst nicht annehmen wollte. Lange begriff ich nicht, dass diese Beichten von ihrer Seite zwar aufgenommen, aber nie erwidert wurden. Sie ließ sich nicht in ihr Inneres hineinsehen. Trotzdem fühlte ich mich nicht allein, denn sie gab mir Kraft; sie förderte meine Freude am Lernen; ich sog ihr Wissen begierig auf, vor allem ihre profunden Kenntnisse der antiken Welt, der lateinischen und altgriechischen Sprachen und natürlich der Jurisprudenz.

So lief alles glatt. Lange praktizierte ich später auch ihr Modell der Ehe in immerwährender Einigkeit, ohne Streit und Meinungsverschiedenheiten, bis ich fast erstickte und mich befreite. Sie versagte mir ihre Hilfe, denn Scheidungen lehnte sie ab. Und so entwickelte ich Selbständigkeit, Schritt für Schritt, Gedanke für Gedanke, negierte und verweigerte viele scheinbar feststehende Grundsätze und Erkenntnisse.

Heute bin ich alles andere als angepasst. Ich suche Menschen und versuche sie zu verstehen, in Offenheit und Gedankenaustausch, im Hintergrund immer das Bedürfnis zu lernen. Ich habe viele Freunde. Mein Beruf als Staatsanwältin gab mir Gelegenheit, die Psyche vieler Menschen kennenzulernen und zu erfahren, welche Leiden die Seelen der Menschen verwüsten. So sehe ich jeden, der mir begegnet, als besonderes Individuum und fühle mich verbunden.

Meine Mutter liebe ich trotzdem. Eine Geborgenheit wie bei ihr habe ich sonst nie gefunden. Ich bewundere sie auch, aber ich kannte sie nie.

 

Begegnungen:

Ich bin alt.
Meine Füße ertasten die Steine.
Schwer hält der Nacken den Kopf.
Mein Blick plant die Schritte.

Du kommst entgegen.
Ich sehe Dich nicht.
Dein mühsamer Atem streift mein Ohr.
Deine Gestalt krümmt meinen Weg.

Meine Augen suchen Dich.
Du bist ganz nah.
Freude wächst in der Seele.
Ein Lächeln legt sich –

Entsprungen aus Mitleid, Sehnen,
Begreifen, Armut des Alters,
Reichtum des Lebens, Verstehen
Auf die Gesichter für lange.

 

Lebensmaxime

Zuhören ist wichtig, wenn man Menschen verstehen will. Menschen sind immer wichtiger als Bücher, Theorien und Wissenschaften. Man muss an seine Mitmenschen glauben. Dazu braucht man Vertrauen. Vertrauen ist die wichtigste Grundlage unseres Zusammenlebens.

Ich versuche, gerade und ehrlich zu leben in der Freiheit, meine Meinung zu sagen – selbstverständlich in angemessener Weise, ohne die Würde des Gegenübers zu verletzen. Ich möchte angenommen werden, wie ich bin. Ich möchte Wahrheit suchen ebenso in mir wie in meinem Gegenüber. Dann muss ich nichts verstecken. Das – denke ich – ist die Basis für Vertrauen.

Zurzeit sehen wir in unserem Kulturkreis abweichende Auffassungen, die uns auf verschiedenen Wegen trennen: Hinsichtlich des Impfens berufen sich Viele – auch in der Politik – auf Freiheitsrechte und halten dieselben für wichtiger als die soziale Verantwortung für unsere Mitmenschen, die wir auch durch unsere eigene Impfung schützen. Das bringt uns alle in Gefahr. Unser Rechtssystem verlangt Ausgewogenheit. Nur auf der Grundlage des systematischen Zusammenwirkens aller Rechte können wir uns in unserem freiheitlichen, sozialen Rechtsstaat sicher fühlen und Notlagen bewältigen.

Wenn die verschiedenen Völkerschaften der Erde nicht zusammenfinden, wird auch eine Rettung des Planeten von Umweltgiften nichts nutzen, weil die Überbevölkerung als Weltproblem den Globus beherrschen wird. Wenn ein Zusammengehen der Menschen zu ihrer Bewältigung nicht gelingt, werden wir zu archaischen Zuständen zurückfallen und letztlich untergehen.

 

Wünsche für die Jugend

Freiheit und Selbstsicherheit soll Euer Leben bestimmen. Das zu erreichen, ist eine schwierige Aufgabe. Man braucht Erkenntnis und Erfolg. Die Förderung, die Kinder im Elternhaus erfahren, ist sehr unterschiedlich. Ganz verschieden werden auch die Wege sein, die Ihr zur Ablösung von der Familie gehen müsst. Ihr sollt entscheiden, welche Gedanken und Maxime Ihr aus dem Kreis der Ursprungsfamilie mitnehmen und welche Dinge Ihr ganz anders machen wollt. Das ist der Prozess des Erwachsenwerdens. Ich wünsche Euch, dass Euch das glückt. Energie braucht man, den Mühen einer Berufsausbildung muss man sich unterwerfen, erste eigene Jahre in ziemlicher Armut durchleben; aber Mut und Anerkennung, Wissen und Nachdenken bescheren Euch schließlich eine selbstsichere Persönlichkeit.

Wir bewegen uns hier im Rahmen des Frauenverbandes im Bund der Vertriebenen. Wir beschäftigen uns auch mit unseren vom Krieg gezeichneten  Vorfahren und deren Schicksal. Wir lernen aus dem Mut und der Duldsamkeit unserer Familien. Das gibt uns einen weiten, besonderen Hintergrund, der uns fördert, beglückt und Kraft für unser Leben schenkt.


Respekt und Dankbarkeit für Frau Dr. jur. Helga Engshuber
Nachwort von Dr. Maria Werthan

Wer Vorträge von Frau Dr. Engshuber hört oder Ihre Texte liest, merkt, dass er es mit einer starken Frau mit einem hellwachen, messerscharfen Verstand zu tun hat. Es ist die klare Denkstruktur der geborenen Juristin, mit der sie argumentiert und hinterfragt. Ich selber habe sie als interessierte Tagungsteilnehmerin kennen gelernt. Mit ihren Fragen und Anmerkungen rollte sie das anvisierte Thema immer aus einer neuen und ungewöhnlichen Perspektive auf. In den Pausen suchte sie das Gespräch mit den anderen Frauen und der Jugend.

Mit ihrer juristischen Sachkenntnis und Akribie stellte sie 2016 die Satzung des Frauenverbandes auf den Prüfstand und justierte sie neu für die Zukunft. Als Beisitzerin des Frauenverbandes lag ihr die Weiterentwicklung des Verbandes immer am Herzen.

Seit Jahren arbeitet sie ihre Familiengeschichte auf. Sie erforschte das Wirken von etlichen Persönlichkeiten aus ihrer Ahnenreihe und macht es ihren Enkelkindern zugänglich. Damit entreißt sie ein Stück Vergangenheit dem Vergessen und bereitet es für die Zukunft auf.

Auf unserer gemeinsamen Reise zu den japanischen Vertriebenen erlebte ich ihren erstaunlichen Wissensdurst. Neben den naheliegenden Fragen zur Geschichte und Kultur unserer Partner hatten es ihr vor allem die fernöstliche Philosophie und die Verquickung von Shintoismus und Buddhismus angetan. Gerne erinnere ich mich an die tiefgehenden und lebendigen Gespräche mit Frau Dr. Engshuber, Frau Dr. Fuchs, Herrn Fuchs und Frau Schuran. Sie bleiben für mich eine Bereicherung.

Liebe Helga / Frau Dr. Engshuber wir Frauen danken Dir / Ihnen für den engagierten Einsatz für den Frauenverband und die lebendige Teilhabe am Verbandsleben! Für die Zukunft wünschen wir Dir / Ihnen vor allem Gesundheit, aber auch, dass die große Offenheit gegenüber Menschen und Ideen sich weiter perpetuiert und der Zuspruch der Familie jeden Tag neue Freude offenbart!

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