TagungsberichtVeranstaltungen

Frauen und Kinder erleben Krieg und Gewalt

Nach der Eröffnung der Tagung durch die Tagungsleiterin, Dr. Maria Werthan, beleuchtete Prof. Kittel Gründe und Hintergründe der Vertreibung der Deutschen. Dazu zählte er neben dem deutschen Aggressionskrieg nationalpolitische, machtpolitische und ideologische Motivketten; wie der Wunsch der osteuropäischen Staaten moderne einheitliche Nationalstaaten zu bilden, welcher von den Alliierten unterstützt wurde mit der Vorgabe eines „geregelten Transfers“ sowie Reibungen zwischen den Nationalitäten, die durch das überhebliche aggressive Vorgehen der deutschen Besatzer verstärkt wurden, aber auch Umsiedlungspläne für Deutsche aus dem Osten aus der Vorkriegszeit, verbunden mit Stalins Forderung zur Westverschiebung der deutschen Ostgrenze von 1941 und den gezielten, vorgreifenden „wilden Vertreibungen“.

Frau Dreher stellte Leben und Werk von Frau Katharina Ellinger vor. Frau Ellinger erlebte 1945 als Kind den Einmarsch der russischen Armee in Schlesien, die Einwanderung der Polen aus den östlichen Gebieten, Lagerhaft und Vertreibung. Im Westen studierte sie Deutsch, Latein und Theologie. Nach einer Tätigkeit als Gymnasiallehrerin veröffentlichte sie wissenschaftliche Arbeiten zu biblischen Themen und zwei autobiografische Bücher. Darin schilderte sie die lebenslange Auseinandersetzung mit den Erlebnissen in der Kindheit bis zur Wiederbegegnung mit der alten Heimat, zu der sie keinen Zugang mehr fand, weil die Schatten der Vergangenheit präsent bleiben.

Am Abend kommentierte Frau Prof. Stambolis den Dokumentarfilm: Rudolf Kipps „Report on the Refugee Situationsbericht zur Flüchtlingssituation“, der 1949 im Auftrag der britischen Besatzung gedreht wurde. Er zeigte die Not und das Elend der Flüchtlinge, die auf der Flucht vor den sowjetischen Besatzern im Westen eine Bleibe suchten, was in vielen Fällen abgelehnt wurde, weil im Westen wie im Osten Wohnraum und Nahrungsmittel knapp waren.

Prof. Dr. Dr. h.c. Ingo von Münch betonte, dass die Massenvergewaltigungen von Frauen und Kindern / jungen Mädchen 1944/45 eines der schlimmsten Verbrechen im Zweiten Weltkrieg waren.  Er versuchte zu klären, wie es zu diesen Exzessen kommen konnte, welche Schutzmöglichkeiten die Opfer hatten und wie sie selber, ihr Umfeld und vor allem die Öffentlichkeit damit umgingen. Dabei verwies er auf die jahrzehntelange Tabuisierung der Verbrechen, weil es auf der Siegerseite nur Helden gab, während die Opfer aus Scham schwiegen und die besiegten Deutschen als Täter abgestempelt, sogleich in Revisionismus-Verdacht gerieten, wenn sie der eigenen Opfer gedachten.

Prof. Dr. Barbara Stambolis stellte Kriegs- und Fluchterfahrungen im Schatten des Zweiten Weltkrieges in Lebens- und Familiengeschichten in den Mittelpunkt ihres Vortrages. Sie zeigte, dass im Alter oft die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse, die physischen und psychischen Entbehrungen wieder kehren. Sie verwies auf die Beobachtungen von Betroffenen und Therapeuten, die zeigen, dass diese tiefgreifenden Erfahrungen über Generationen Spuren hinterlassen. Frau Prof. Stambolis sieht eine vorrangige Aufgabe darin, den Schicksalen und lebenslangen Fragen einstiger Kriegskinder eine Stimme und ein Gesicht zu geben.

Prof. Dr. Jürgen Reulecke referierte zur Kriegskinder- und Kriegsenkelproblematik. Ausgehend von den eigenen Kriegserfahrungen und deren Bewältigung in der Nachkriegszeit ging er dazu über, die Spuren und Nachwirkungen dieser Kriegsprägungen in den Biografien der heutigen Senioren zu erfassen.

Frau Dr. Viktoria Soloschenko sprach über die Folgen der Annexion der Krim sowie die militärische Intervention im Donbass. Die Wirtschaftslage der Ukraine ist katastrophal und die antiukrainische Propaganda omnipräsent. Tagtäglich werden Dörfer und Städte bombardiert. Die Infrastruktur liegt in Trümmern und die Versorgung der Erwachsenen und vor allem der Kinder mit Nahrungsmitteln und Medikamenten ist nicht gewährleistet. Unschuldige Zivilisten erleben Tag für Tag Gewalt, Angst, Kampf, Missbrauch, und Armut. Manche fliehen, andere versuchen in den Trümmern zu überleben.

Unter dem Motto: „Wer bin ich?“ schilderte Frau Johanna Neumann ihre jahrzehntelange Identitätssuche als Königsberger Kriegskind. Im brennenden Königsberg verlor die kleine Hannelore 1945 ihre Mutter und ihren kleinen Bruder. Dem Hungertode nahe kam ihr jegliches Wissen über die eigene Herkunft abhanden. In einem Kinderheim wurde ihr der Familienname Neumann zugeschrieben. Auch nachdem sich herausstellte, dass es nicht ihr richtiger Name war, behielt sie ihn als Schicksalsnamen. Nach der Flucht in den Westen setzte sie die Suche zu ihren eigenen Wurzeln fort.

Dr. Christopher Spatz erörterte den Begriff der Wolfskinder und analysierte die wirtschaftspolitische Situation, die den Rahmen für die den Überlebenskampf der ostpreußischen Kinder bildete. Er fragte nach den Erfahrungen der Kinder in einem fremden Land ohne familiäre Bindungen und ohne Sprachkenntnisse. Er zeigte, dass die „Wolfskinder“ im Allgemeinen mit der lebenswichtigen Unterstützung der Litauer rechnen konnten. Oft war die Leugnung der deutschen Identität der Preis für das Überleben. Als starke Persönlichkeiten charakterisierte er die überlebenden Wolfskinder, die sich sowohl in die litauische als auch später in die deutsche Gesellschaft geräuschlos integrierten, während ihnen die Gesellschaft jede Empathie verweigerte.

Frau Brigitte Trennepohl schilderte ihren Überlebenskampf in der Nachkriegszeit neben und zuweilen gemeinsam mit den „Wolfskindern“. Im besetzten Ostpreußen war sie als Siebenjährige tagtäglich unterwegs, um Essbares für Mutter und Oma aufzutreiben und bei den litauischen Bauern zu erbetteln.  Sie musste Kälte, Hunger, Behördenwillkür, dazu wechselweise menschliches Wohlwollen und Feindseligkeit ertragen. Dabei erkannte sie, dass Humanität nicht an die Nationalität gebunden ist.

Eine Traumatisierung ist ein prozesshaftes Geschehen, in dem die Umweltfaktoren und die personalen Faktoren in anhaltender Wechselwirkung stehen. Die Tagungsbeiträge verdeutlichen, dass es den traumatisierten Frauen gelungen ist, Resilienz, d.h. Widerstandsfähigkeit und ein gesunde Selbstwertgefühl zu entwickeln. Maßgeblich für die Erarbeitung eines positiven Selbstwertgefühls waren nach Aussagen der Frauen die Unterstützung und die Akzeptanz der Familie und der Freunde, der ethnischen und der religiösen Gemeinschaft sowie persönliche kognitive, emotionale und motorische Fähigkeiten und praktische Fertigkeiten, aber auch Zielstrebigkeit und nicht zuletzt die Akzeptanz des Unveränderbaren. Die offene Auseinandersetzung der Referentinnen mit ihrem Geworden-Sein in unterschiedlichen Zeiten und Räumen ermöglichte den Frauen, ihren Horizont zu erweitern und den starken Gastdozentinnen Respekt zu zollen.

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