Japan, ja. Wir waren also dort. Schließlich ging alles ganz schnell. Unsere Freundin, Dr. Mariko Fuchs, Japanerin, hatte 2017/18 den Kontakt zu den japanischen Flüchtlingen geknüpft, das in der Präfektur Nagano errichtete Flüchtlingsmuseum ausfindig gemacht und japanische Flüchtlinge zu einem Besuch bei uns angeregt. Den Keim des Interesses auf unserer Seite hatte Dr. Fuchs im Frauenverband durch einen Vortrag über die Problematiken der japanischen Flüchtlinge gelegt; sie beschrieb uns völlig unbekannte politische Vorgänge und schilderte zu Herzen gehende Schicksale. Von Parallelen unserer Schicksale zu ähnlichen Geschehen am östlichen Ende des riesigen asiatischen Kontinents hatten wir bis dahin niemals gehört. Die Japaner wussten eben so wenig von uns; nicht nur unser Ergehen erregte ihr Mitleid; besondere Bedeutung erlangte für alle der Vergleich staatlicher Fürsorge für die Ankommenden auf deutscher Seite in Bezug zu dem auf japanischer Seite geübten völligen Wegsehen von den schrecklichen Schicksalen der mindestens genauso betroffenen dortigen Bevölkerung. In Japan ist nämlich nicht üblich, Schicksalsschläge gegenüber den Mitmenschen zu offenbaren, auf die eigene Bedürftigkeit hinzuweisen und Hilfe zu erwarten. Ebenso wie die Opfer der Atombombenabwürfe hatten die japanischen Flüchtlinge über ihre Verluste und ihr Ergehen geschwiegen und keinerlei staatliche Fürsorge oder Ermunterung erwartet oder gar erhalten. (Den Bericht über das Symposion mit den Japanern vom 10. Juni 2018 finden Sie in der Sudetenpost vom 6. September 2018 S. 13, im „Alte Heimat Kuhländchen“ 2018 S. 525 ff., sowie in der „Banater Post“, Näheres unbekannt.)
Grundlage der Geschehnisse, denen wir uns hier widmen, sind im japanischen und im deutschen Fall auf fremdem Territorium ausgelagerte Siedlungen, was – wie man gesehen hat – alsbald oder noch Jahrhunderte später schreckliche Folgen haben kann. So wurden in unseren östlichen Nachbargebieten seit dem 14. Jahrhundert ansässige Deutschstämmige vertrieben; in Japan betraf die Vertreibung Neusiedler, denn erst seit etwa 1920 hatte Japan die Gründung des Staates Mandschukuo in der Mongolei/Mandschurei betrieben und mit einigem Druck japanische Siedler für dieses Gebiet gewonnen. Wir ebenso wie sie wurden aus den entfernten Lebenskreisen vertrieben, soweit wir nicht alle bereits beim Herannahen der feindlichen Armeen zu Ende des Krieges geflohen waren.
Durch die wirksame, selbstverständlich mit Eigeninitiativen verbundene, staatliche Fürsorge in Deutschland gelang die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen hier in wenigen Jahren (was den Kummer über die verlorene Heimat nicht minderte); ohne jede Hilfe von außen und mit kaum vorhandenen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme untereinander dauerte dieser Prozess in Japan erheblich länger.
Aber aus einer Privatinitiative war 2013 das japanische Flüchtlings- /Mandschurei-Museum entstanden und verzeichnet bis Ende 2019 rund 170.000 Besucher, worauf die Initiatoren sehr stolz sind. Es wird auch kolportiert, der Kaiser sei kürzlich dort gewesen, eine Nachricht, die von der Museumsleitung allerdings nicht bestätigt wird. Der Museumsbau besteht aus einer flachen Holzkonstruktion, wie sie in Japan üblich sind. Berauschend ist der Blick ins Gebälk, wie die Streben sich an einzelnen Punkten in der Höhe vereinigen und wenige starke Balken die Breite des Baus gewährleisten. Das Holz duftet und die luftigen Räume geben das Gefühl von Geborgenheit in offener Luft.
An einem langen Gang, der zwischen einem gastronomischen Bereich an dem einen Ende zu Konferenzräumen am anderen Ende führt, reihen sich die Ausstellungen. Sie veranschaulichen u.a. den Krieg mit ohrenbetäubendem Einsatz von Kanonen und anderen Schusswaffen, vor denen es kein Entrinnen gibt; sie zeigen eine mandschurische Hütte, die man eher der Urzeit als dem 20. Jahrhundert zuordnen würde. So entsteht ein Bild der Lebensumstände der Vertriebenen auf dem asiatischen Festland. Von der Flucht selbst und dem Elend der Ankommenden in den damaligen Zeiten, die keine Zukunft oder Wandlung des Schicksals zum Besseren erkennen ließen, gibt es kaum fotografische Dokumente. Damals konnte noch keine Erinnerungskultur aufgebaut, an eine Beweisgrundlage durch Fotos nicht gedacht werden. Das Gewicht des Alltags und seiner täglichen Sorgen um den heutigen und den morgigen Tag waren zu erdrückend, in Japan genau wie bei uns.
Vergleichen lassen sich die Schicksale der Flüchtlinge in Deutschland und Japan beim Ende des Zweiten Weltkrieges mithin nur in einzelnen Umständen. Zwei Leidenspunkte aber gibt es, in denen unser besonderes Entsetzen hervorgerufen wird und in denen wir den Japanern unsägliches Mitleid zuwenden müssen.
Das sind einmal die aussichtslose Verlassenheit der Siedler nach dem Rückzug der japanischen Armee, die ihre Landsleute in Mandschukuo befehlsgemäß im Stich ließ, ohne jeden Schutz, versehen nur mit einem Selbstmordbefehl, demselben Zwang zur Selbsttötung, wie der Diktator Tojo Hideki sie von besiegten japanischen Soldaten verlangte. Am Tag nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima brach Stalin den Nichtangriffspakt mit Japan und ließ seine Armee das Land überschwemmen. Die japanischen Siedler sahen sich außer den feindlichen Soldaten auch noch mächtigen marodierenden Banden gegenüber, die ihnen von Anfang an das Land, das die japanische Regierung ihnen zugewiesen hatte, durch ständige Eroberungszüge streitig machen wollten. Nicht wenige Dorfgemeinschaften übten in dieser verzweifelten Lage den kollektiven Selbstmord.
Das war bei uns ganz anders: Die deutsche Armee floh an der Seite der Flüchtlinge und ging für alle sichtbar in langen Fußmärschen in die damalige Sowjetunion in jahrelange Gefangenschaft. Wir Geflohenen konnten unbeirrt nach Westen ziehen, ausgestattet mit einem Urvertrauen, dass es in Deutschland, so sehr kriegszerstört es auch war, für uns irgendwie ein Plätzchen für ein Überleben geben würde. Den geflohenen Japanern stand ein solches Trostgefühl nicht offen: Ihr Überleben musste ihnen fast illegal erscheinen, hatten sie doch den Befehl zum Selbstmord missachtet. Ihr Leben musste ihnen erschlichen vorkommen. Der japanische Staat ließ sie ihre prekäre Lage auch deutlich spüren. An der Küste in Häfen angekommen, verweigerte man den Flüchtlingen eine Schiffspassage nach Japan. Die meisten mussten ein Jahr und mehr in äußerster Not in China warten, bis man sie schließlich heimholte.
Der zweite Punkt des unsäglichen Leidens der Japaner betraf ihre Kinder. Zwar sind auch bei uns sehr viele Säuglinge an Entbehrung und Unterernährung auf der Flucht gestorben. Aber die Japaner verloren auch größere Kinder. Sie mussten sich in unendlicher Angst vor Entdeckung tagsüber verstecken und wanderten nachts. In den Verstecken schrien die Kinder. Aus Angst, dem Feind in die Hände zu fallen, wurden viele Kinder getötet. Mütter, die die Angst um das Überleben ihrer Kinder nicht mehr ertragen konnten, überließen ihre Lieben mitleidigen chinesischen Bauern am Wegesrand. Diese Kinder, inzwischen erwachsen und zu Chinesen geworden, wurden erst in den 70er Jahren nach Japan zurückgeholt. Sehr viele konnten sich in ihren inzwischen fremd gewordenen Familien und dem unbekannten Heimatland nicht zurechtfinden und kehrten nach China zurück.
Im Bewusstsein dieser Leiden betreten wir beklommen das Museum. Wir werden vertraut empfangen, umarmt und mit Geschenken beglückt. Wir kennen die Manager des Museums aus dem vergangenen Jahr, als sie uns in Deutschland besuchten. Wir haben Sprachprobleme. Außer Dr. Fuchs spricht keiner von uns Japanisch. Englisch wird in Japan selten gesprochen. Bei dem Treffen in Deutschland waren außer Mariko noch zwei japanische Ehefrauen von Deutschen zugegen, die sich mit dem Übersetzen abwechseln konnten. Jetzt ist nur noch Tomomi Shimazaki anwesend, die Englisch studiert hat und im Umweg über das Englische hilft. Bei dem deutschen Treffen im Haus der Geschichte in Bonn haben wir die Grundlagen unserer Kenntnisse über die japanischen Flüchtlingsschicksale erhalten. Nun in Japan – auf Fuchs angewiesen – kommt die Übersetzung der japanischen Beiträge ins Deutsche viel zu kurz. Unsere Ansprachen liegen denn auch in japanischer Übertragung schriftlich für die Besucher des Symposiums bereit, das am Folgetage stattfinden soll.
Für das Symposium am 19. Oktober war die Teilnehmerzahl auf 100 Menschen begrenzt. Es kamen mehr als hundert. Sie hatten, da einige Verkehrswege noch durch den vorangegangenen Taifun belastet waren, teils bis zu sechsstündige Busfahrten auf sich nehmen müssen. Der Saal war voll. Extra für unser Treffen hatten die Manager einen wunderbaren neuen Konferenzraum an das Museum anbauen lassen, der alle in konzentrierter Runde aufnahm. Auf dem Podium saßen die japanischen Professoren Dr. Kimura und Dr. Minami, vom Frauenverband die Präsidentin, Dr. Maria Werthan, die Schatzmeisterin Rosemarie Schuran und Unterzeichnete als einfaches Vorstandsmitglied, aber aufgrund ihrer langjährigen guten Freundschaft zu Dr. Fuchs letztlich die Vermittlerin der japanischen Kontakte des Frauenverbandes.
Große Verdienste sind Frau Dr. Fuchs zuzumessen, die die Verbindung zu den japanischen Flüchtlingen auf eigene Initiative aufgebaut und im letzten Jahr die Reise der Japaner nach hier mit außerordentlichem persönlichem Einsatz organisiert und begleitet hat. Unsere Japanreise mit dem Museumsbesuch und der Teilnahme am Symposium waren durchgeplant, als wir dann von den Terminen erfuhren.
Die Verantwortlichen des Museums wollen durch ihren Einsatz hauptsächlich jungen Menschen ein Bewusstsein für die Schrecknisse der vergangenen Kriege vermitteln und sie vor gefährlichen, extremistischen Strömungen warnen. Der Manager des Museums schrieb vor einigen Wochen: „We are glad to share the importance of learning the history of Japanese emigrants to Manchuria with many people. We will make every effort, as a base for peace or history education to pass the experience on the future generation.“ (übersetzt von Frau Shimazaki – auf Deutsch: Wir sind glücklich, mit vielen Menschen das Bestreben zu teilen, durch Beschäftigung mit der Geschichte der japanischen Auswanderung nach Manschuria geschichtliches Bewusstsein zu wecken. Wir werden jede Anstrengung auf uns nehmen, unsere Erfahrungen an die nachkommenden Generationen weiterzugeben.“).
In dem Bemühen um Frieden durch Vermittlung der Schrecknisse des Krieges an die nachfolgenden Generationen sind wir uns mit unseren japanischen Freunden und Gesprächspartnern völlig einig. Wir werden in Verbindung bleiben und uns sicherlich noch oft gegenseitig besuchen. Der Wunsch besteht jedenfalls auf beiden Seiten.
Wir haben sehr viel gelernt in Japan. In vielen der Tempel, die wir besuchten, sahen wir die Friedensliebe der Japaner, deren Machthaber manchmal lieber in ein Kloster gingen als sich mit kriegerischen Auseinandersetzungen den Weg in die Erlösung zu verbauen. Besonders tröstlich – auch für uns – wirkten die zauberhaften, 800 Jahre alten Skulpturen im Museum des Byodoin-Tempels: Die Statuen von 52 Göttern (Bosatsus = Boddhisatwas) kommen auf Wolken angeschwommen, um die leidenden Menschen zu trösten und zu lehren. Jeder von ihnen hält einen heiligen Gegenstand in der Hand. Die meisten spielen Musikinstrumente für die Menschen. Schöner kann man sich sein Ende nicht vorstellen.
So haben wir am Ende des Symposions die Frage, wie man fremden Menschen in Frieden begegnen könne, mit folgenden Grundsätzen beantwortet:
- Beschäftigung mit fremden Kulturen, vor allem Religionen und viel daraus lernen.
- Fremde Sprachen beherrschen, damit man mit den Menschen reden und ihre Gedanken verstehen kann.
- Allen Menschen mit Achtung und Respekt begegnen und sie in ihren Besonderheiten wertschätzen.
- Solche Achtung auch den Toten und ihren Begräbnisstätten entgegenbringen. Viele Beobachtungen in unseren ehemaligen Siedlungsgebieten lassen erkennen, dass die Versöhnung derer, die ehemals ihre Heimat geteilt haben, sich zu Kriegsende dann aber töteten und vertrieben, auf den Friedhöfen begann.
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