Seit nunmehr 16 Jahren veranstaltet der Frauenverband im BdV Begegnungstagungen, die sich mit den Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung befassen. „Unsere Väter. Welche Fußabdrücke hinterließen sie in unserem Leben? Wie gestalten wir gesamteuropäisches Handeln auf diesem Erfahrungshintergrund?“ So lautete das Thema der internationalen Begegnungstagung, die im September 2015 in Hohegrete (Westerwald) stattfand und zu der Präsidentin Dr. Maria Werthan wieder Teilnehmer aus dem In- und Ausland begrüßen konnte.
Auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstandes erläuterte der Historiker Prof. Dr. Matthias Stickler die historischen Hintergründe von Flucht und Vertreibung der Deutschen. Außerdem schilderte er die sehr unterschiedlich betriebene Integration der Entwurzelten in den beiden deutschen Staaten sowie Österreich. So unterschieden sich auch die Bezeichnungen entsprechend der jeweiligen politischen Lage (Vertriebene, Umsiedler/Neubürger, Aussiedler, Übersiedler). Die Sozialwissenschaftlerin Dr. Maria Werthan stellte Ziele und Strategien von Erziehung in Diktaturen („Totale Erziehung“) am Beispiel der NS- und SED-Diktatur dar, wobei die Frage nach der Wirkung dieser Erziehung nicht eindeutig zu beantworten sei. Dr. Otfrid Pustejovsky, Historiker und Theologe, untersuchte die deutsche Gesellschaftsdebatte 2000-2015. Nach Phasen des Verschweigens und Verdrängens in den Jahren nach Kriegsende sei man mittlerweile zu einer wissenschaftlichen, publizistischen und medialen Beschäftigung mit generationsübergreifenden Kriegs- und Kriegsfolgeschäden im europäischen und Welt-Kontext gekommen: von Ostpreußen 1944 bis Syrien, dem Irak usw. im Jahre 2015. Bahnbrechend sei die Erkenntnis gewesen, dass auch weit zurückliegende Ereignisse eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSB ) auslösen könnten. Über viele unterschiedliche Gruppen elternloser Kinder in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit sprach der Journalist Dr. Jaroslav Sonka: Jüdische Überlebende aus den KZs, russische Emigranten, aus der Karpato-Ukraine geflüchtete ehemalige Tschechoslowaken, Überlebende aus Lidice, deutsch-tschechische Mischlinge. Unter der einsetzenden kommunistischen Dominanz hatten nicht nur sie zu leiden, sondern auch der evangelische Theologe Přemysl Pitter, der ein Projekt organisierte, bei dem Waisenkinder in Schlössern untergebracht, gepflegt und unterrichtet wurden – unter ihnen auch viele unterernährte sudetendeutsche Kinder aus Sammellagern. (Nach dem kommunistischen Putsch 1948 wurde Pitter verfolgt und ging 1950 in den Westen, wo er sich weiterhin um Waisenkinder kümmerte.) Der Psychoanalytiker Dr. Bertram von der Stein beleuchtete die Rolle der Väter. Die Ende des 19. Jahrhunderts gültige traditionelle Geschlechterrolle wurde im Nationalsozialismus durch das Ideal der Männlichkeit verstärkt. So wurde der im Krieg gefallene Vater den Kindern häufig als eine Lichtgestalt dargestellt, der sie nacheifern sollten, an die sie aber nie heranreichen würden, was ihr ganzes Leben prägte. Viele Patienten suchten erst im fortgeschrittenen Alter einen Therapeuten auf. Da es in der Psyche keine Stunde null gäbe, könne ein Kollektiv-Trauma bis in die dritte oder vierte Generation weitergegeben werden. Die in Reschitz (Rumänien) tätige Gymnasiallehrerin Florica Molnar stellte die Situation vieler Kinder in Rumänien dar: Mehr als zwei Millionen rumänische Bürger arbeiten laut Schätzungen des Arbeitsministeriums in den EU-Ländern. Während die Eltern den Lebensstandard ihrer Familien verbessern wollten und nur selten nach Hause kämen, seien die Kinder über lange Zeit bei Verwandten oder Fremden untergebracht. Kinder, deren Eltern sie mit Gesprächen darauf eingestimmt hätten und die liebevoll mit ihnen umgingen, könnten die Situation recht gut verkraften. Dagegen gebe es auch Kinder, die völlig unvorbereitet mit der neuen Lage konfrontiert würden. Bei ihnen habe man gesundheitliche Beeinträchtigungen (u.a. Ess- und Schlafstörungen, Depressionen) festgestellt. Viele schwänzten den Unterricht, einige würden kriminell.
Die wissenschaftlichen Vorträge wurden abgerundet durch persönliche Schilderungen:
Die Dänin Henny Granum, die mit ihrer deutschen Halbschwester angereist war, ist Vorsitzende der Danske Krigsbørns Forening und Sekretärin von „Born of war – International Network“. Sie berichtete über die Arbeit ihres Verbandes und ihre Suche nach ihrem deutschen Vater. Sie beschrieb die Beziehungen zwischen deutschen Wehrmachtssoldaten und der dänischen Bevölkerung 1940-1945, die sich erst ab 1944 verschlechterten. Nach dem Ende des Krieges wurden die „Deutschen-Dirnen“ und die „Deutschen-Bälger“ gebrandmarkt. Viele Kinder hätten sich erst in den letzten Jahren dazu durchgerungen, ihre deutschen Väter zu finden. Gertraud Wiggli von Löwenich las aus ihrem Buch „Mein Bild des Vaters – Auf der Suche nach meinem Vater, der als Wehrmachtspfarrer in Stalingrad starb“. Sie schilderte die mühevolle Annäherung an einen Vater, den sie nie kennengelernt hatte, den die Mutter den Kindern aber als eine gottähnliche Autorität darstellte. Der Philosoph Prof. Dr. Karol Sauerland schilderte, wie ein Kind mit einem ungewissen Vaterbild aufwächst: sein Vater wurde kurz nach der Geburt des Sohnes (1936) in Moskau verhaftet. Mutter und Sohn erfuhren erst Anfang der sechziger Jahre, dass er nicht in ein Lager eingewiesen, sondern ein Jahr nach seiner Verhaftung erschossen worden war. Er wies darauf hin, dass es auf dem Gebiet der Sowjetunion Hunderttausende solcher Fälle gebe: es seien „Länder der Unbegrabenen und Untoten.“ Paul Schmitz zeigte eine Filmreportage des deutschsprachigen belgischen Fernsehens über die Suche nach seinem amerikanischen Vater. Dieser war bei Kriegsende in Sourbrodt (Belgien) stationiert. Nach Demütigungen und Ausgrenzungen in Kindheit und Jugend fand Paul Schmitz erst 60 Jahre nach dem Krieg den Mut, seine Identität zu erforschen und nach seinem Vater zu suchen, denn „ein Gefühl der Unvollständigkeit“ habe ihn sein Leben lang begleitet.