Geworden-Sein
Mein Alter zeigt, wie lange die Erinnerung an das Ende des 2. Weltkrieges in Deutschland zurückliegt: Im Januar 1945 begann die große Flucht, als die Sowjetarmee die Weichsel überschritten hatte und zum Sturm auf das Deutsche Reich antrat.
In jenen Tagen bin ich rechts der Weichsel in Westpreußen geboren, in dem sich seit Hunderten von Jahren ein Miteinander der Völker ergab: Glaubensflüchtlinge aus Holland (Mennoniten), aus Frankreich (Hugenotten) und aus Österreich (Salzburger), Siedler aus Thüringen, Pommern und aus Württemberg finden sich unter den Vorfahren der Familien, aus denen meine Mutter, mein Vater und mein Ehemann stammen. Sie fanden eine Lebensgrundlage in einem Land, das im Mittelalter mit Zustimmung der europäischen und religiösen Mächte durch den deutschen Ritterorden erobert, verwaltet und besiedelt wurde. Es gab Zuwanderung aus deutschen Landen; aus dem Süden kam polnischer Adel, aus dem Norden Litauer und Schweden, Kaufleute über die Ostsee und Saisonarbeiter auf der Weichsel. Sie brachten unterschiedliche Begabungen und Wirtschaftskraft mit und Ideen für Handwerk, Handel, Ackerbau und Viehzucht. Die Nationalität, also die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatsvolk spielte erst seit der französischen Revolution eine zunehmende Rolle. Es führten politische Ideologien zu Arroganz und Hass und letztlich zu den erbitterten Kriegen des 20. Jahrhunderts und zum Zusammenbruch 1945.
In meinem Geburtsjahr erlebten auch meine Familienangehörigen viel Leid und Tod: Am 18. Januar 1945, als mein Vater in einem Feldpostbrief von meiner Geburt erfuhr, fiel er durch die Schüsse sowjetischer Soldaten. Am 5. Februar 1945 erhielt ich in Schönlanke, Netzekreis, kurz vor der Einnahme der Stadt durch die Rote Armee, die Nottaufe. Die sowjetischen Besatzer richteten in der fast unzerstörten kleinen Stadt eine Kommandantur ein, in der meine Mutter täglich zu Reinigungsdiensten herangezogen wurde. Sie konnte sich gut auf Polnisch verständigen, da sie im polnischen Teil Westpreußens zur Schule gegangen war und eine polnische Meisterin sie zur Schneiderin ausgebildet hatte. Was sie in dieser Zeit wirklich erlebt hat, kennen wir nur skizzenhaft und bruchstückweise; wir konnten sie nicht mehr fragen, denn sie starb schon im Alter von 55 Jahren.
Die Verwandten und ihre Nachbarn gingen mit einem Treck von vielen Wagen von meinem Geburtsort aus (nördlich des großen Weichselbogens) auf die Flucht und landeten nördlich von Bremen in Uthlede. Weder sie noch meine Großeltern in Berlin wussten, wo meine Mutter mit uns vier kleinen Kindern war und ob wir noch existierten. Mein Vater blieb vermisst und mein Großvater Dr. Konrad Saenger wurde als Zivilist am 25.4.1945 bei der Einnahme von Berlin-Dahlem im Hof des Pfarrhauses von Martin Niemöller von sowjetischen Soldaten erschossen. Zwei Wochen später kapitulierte die deutsche Wehrmacht; die Waffen schwiegen in Deutschland aber blieb selbst das nackte Überleben bedroht. Im August fielen die ersten Atombomben in Japan, dennoch konnten sich die siegreichen Alliierten bei der Potsdamer Konferenz nicht auf einen Friedensvertrag einigen.
Meine Mutter wollte im Spätsommer 1945 von Schönlanke nach Berlin fliehen und organisierte – auch um die brutalen Vertreibungstransporte zu vermeiden – eine Flucht mit uns vier kleinen Kindern und sieben Sack Gepäck. Sie schaffte es, dass ein Bahnbeamter uns im Zug versteckte und wir erreichten Ende September 1945 unser Großelternhaus in Berlin. Es war nicht zerstört, aber beherbergte schon mehrere gestrandete und ausgebombte Verwandte. Trotz Zuzugsgenehmigung bedrohten Not und Mangel und vor allem der eiskalte Hungerwinter 1945/46 das Alltagsleben. Deshalb zog meine Mutter im Februar 1946 „aufs Land“, wo die mütterliche Großmutter sicher angekommen war. Diese Reise nach Uthlede, das nördlich von Bremen liegt, gestaltete sich besonders schwierig. Sie dauerte mehrere Tage und wir Kinder steckten uns alle mit Keuchhusten an. Gott sei Dank haben wir auch dieses Elend überlebt.
Die westpreußische Familiengeschichte hatte nun eine tiefe Zäsur erfahren. Nach Krieg und Flucht musste unsere Familie ganz unten anfangen und sich in den Lebensverhältnissen in einem niedersächsischen Dorf zurechtfinden. Einen Tag vor meiner Einschulung im April 1951 zogen wir um in die Hansestadt Bremen: Unsere siebenköpfige Flüchtlingsfamilie konnte ein unfertiges Häuschen mieten: Der Großonkel – als Gutsbesitzer immer mit seinem Schicksal hadernd – beackerte den großen Garten; die Großmutter – Kriegerwitwe des 1. Weltkrieges, deren Sohn bei Stalingrad vermisst war – kochte und war immer für alle da; meine Mutter organisierte unser Einkommen, nutzte alle Bildungschancen und sorgte für eine demokratische, weltoffene und christliche Erziehung.
Mein ältester Bruder konnte ab der 7. Klasse das Gymnasium besuchen und wir drei Geschwister folgten nach und alle machten dort ihr Abitur. Mit Lastenausgleichsmitteln des Großonkels, den Witwenrenten meiner Mutter und Großmutter, sowie unseren Halbwaisenrenten und sonstigen Sozialleistungen der frühen Bundesrepublik bauten wir 1957 ein größeres Haus. Wir wurden konfirmiert und engagierten uns in den Jugendgruppen der Kirche, der deutschen Jugend des Ostens (DJO) und im ostdeutschen Studentenbund (ODS). Die beiden Brüder studierten Wirtschaft, die beiden Mädchen Pädagogik. Wir waren gut eingegliedert, es war uns aber bewusst, dass wir aus Westpreußen stammten und keine Hanseaten oder Niedersachsen waren.
Nach meinem Studium wanderte ich in die USA aus, um die Nation kennenzulernen, die uns in Deutschland die Demokratie lehrte und gegen die Bedrohung aus dem sozialistischen Ostblock beschützte. Ich lebte und arbeitete dort in einem von Mennoniten gegründeten Kinderheim, lernte ihren Glauben kennen, bevor ich wusste, dass mich sehr viel mehr mit ihrer Geschichte verband: Westpreußische Mennoniten gehörten zu meinen Vorfahren an der Weichsel, doch viele waren nach Amerika ausgewandert, um dem Kriegsdienst in Europa aus Glaubensgründen auszuweichen. Die älteren sprachen noch Deutsch. Der weite Horizont, der hohe Himmel und die teilweise unberührte Natur des Mittelwestens von Amerika faszinierten mich genauso wie die Fähigkeit der Farmer, dem Boden reiche Ernten und große Rinderherden abzutrotzen. Dennoch blieben sie gläubige, bescheidene, ihrem Herrgott dankende Christen.
1973 kehrte ich nach Deutschland zurück und berichtete meiner fast 100 Jahre alten Großmutter begeistert von meinen Eindrücken. Als ich ihr Fotos zeigte, rief sie „Das sieht ja aus, wie in der Heimat!“ Nun dämmerte mir etwas von der Bedeutung meiner Abstammung: Durch meine Geburt wurde ich in eine Ahnenreihe gestellt, in der mannigfache Volksgruppen mit unterschiedlichen Talenten ihre Kultur entwickelten. Neben ihrem christlichen Glauben vererbten die Vorfahren von Generation zu Generation ihre Lebenserfahrungen. Diese Herkunft wurde mir in die Wiege gelegt und durch Erziehung, Erzählungen und Traditionen weiter geprägt. Ohne eine eigene Erinnerung an den Heimatverlust durch Flucht und Vertreibung blieb diese Prägung für mich wirksam bis ins Alter und geht wohl weiter bis in die nächsten Generationen.
Einsatz für die vertriebenen Frauen
a) Reisen und andere praktische Tätigkeiten
Nachdem ich in Deutschland beruflich Fuß gefasst hatte, machte ich mich mit Freunden aus der Studentenzeit im Jahr 1975 auf zu einer ersten Reise in unsere Heimat Westpreußen. Da sie im sozialistisch regierten Polen lag, musste ein Einreisevisum beantragt werden. Von einer Landkarte, die in unserem Hauseingang hing, kannte ich Ortsnamen, Flüsse und Sehenswürdigkeiten und wusste genau, wo mein Geburtsort lag. Dieser Reise folgten drei weitere mit einer Freundin, meiner Schwester und deren Familie. Wir hatten inzwischen private Kontakte zu polnischen Familien, denen meine Mutter lange Zeit Pakete und Briefe geschickt hatte. Die Verständigung mit der älteren Generation war auf Deutsch, mit der jüngeren auf Englisch. Wir erkundeten mit ihnen gemeinsam die Heimat unserer Familie.
Nach diesen ersten Reisen organisierte ich in den 90er Jahren ganz unterschiedliche Reisen als Reiseleiterin: Manche nannte ich Spurensuche und bot sowohl den Zeitzeugen als auch ihren Kindern an, durch ihre Dörfer zu fahren, wobei dann die Teilnehmer ihre Geschichte und ihr Wissen mit den anderen teilten. Auf einigen Reisen erhielten Studentinnen aus dem Ausland die Gelegenheit mitzufahren und dabei die Teilnehmer zu interviewen. Insgesamt habe ich mehr als 30 Reisen angeboten, auch um die Frauen, die noch in der Heimat lebten, zu besuchen und sie zu uns einzuladen. Das war mit Reisegruppen wegen des Eisernen Vorhangs zwischen dem Ostblock und dem westlichen Europa vor 1990 nicht möglich gewesen. Ich nahm auch an Reisen anderer Anbieter teil, um noch mehr vom Osten kennen zu lernen, z.B, mit einer Gruppe von Evangelischen Akademikerinnen in das sowjetisch abgesperrte Ostpreußen, oder mit dem Heimatkreis Memelland in ihre Heimat nördlich von Ostpreußen und ins Baltikum. Meine Reisen führten auch durch die schönsten Gegenden Masurens vor allem mit landsmannschaftlichen Gruppen von Ost- und Westpreußen, mit anderweitig gemischten Gruppen verschiedenster Interessen politischer, familiärer oder kultureller Natur, mit Frauen aus Berlin oder gemixt aus den neuen und alten Bundesländern und mehreren Generationen, bei denen immer Zeitzeuginn/en und ihre Kinder oder Enkel aus Interesse mitfuhren.
Eine besondere Reise innerhalb der Frauenarbeit führte uns durch West- und Ostpreußen. Wir brachten Fachleute für Ernährung mit und trafen Frauen der deutschen Minderheit und Lehrerinnen einer Fachschule für Hauswirtschaft. Wir tauschten Rezepte aus, berichteten von traditioneller Kochkunst und entdeckten viele Gemeinsamkeiten. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft krönte das Miteinander, das alle Sprachhindernisse überwand. Einige Reisen führten zu Begegnungen, wie z.B. die zu den Einweihungsfeiern mehrerer Gedenksteine im und am ehemaligen Zwangsarbeitslager für Polen Potulitz /Potulice, das ab Januar 1945 zu einem Zwangsarbeitslager für Deutsche wurde und bis 1949 bestand.
Den Reisen in die Heimatgebiete Pommern, Westpreußen, Danzig, Ostpreußen, Baltische Länder, Schlesien, Ukraine und Zentralpolen folgten viele Kontakte zu Referentinn/en; gegenseitige Einladungen dienten der Verständigung. Die vielen Begegnungen und die tragfähigen Kontakte zu Menschen, die in der Heimat leben oder von dort kommen, sind nicht zählbar und nehmen noch weiter zu.
Leider stand meine Mutter wegen ihres frühen Todes im Jahr 1971 nicht mehr selbst als Zeitzeugin zur Verfügung, aber ich erinnerte mich an viele ihrer Erzählungen. Ich wurde 1981 zur Frauenreferentin der Landsmannschaft Westpreußen gewählt, zuerst in Niedersachsen, 1982 auf Bundesebene. So trat ich praktisch in die Fußstapfen meiner Mutter: Sie lud schon in den 50er Jahren westpreußische Frauen, die nach der Flucht in und um Bremen angekommen waren, in unser Haus einmal monatlich zum Kaffee ein. Daraus war eine feste Frauengruppe entstanden. Zweimal jährlich traf man sich zusätzlich und packte Pakete für die, denen es in der Heimat und in der DDR viel schlechter ging als uns. Diese aktive Frauenarbeit unterstützte ich durch den Transport der Pakete per Fahrrad zur Post. Später als Frauenreferentin lernte ich noch viele solcher aktiven Frauengruppen in allen Landsmannschaften kennen.
In Büchern, die in den 1980er Jahren langsam auftauchten, las ich Biographien und Zeitzeugnisse von deutschen Vertriebenen und erfuhr auf diese Weise Genaueres vom Geschehen bei Flucht und Vertreibung. Mein Mann ergänzte das Gelesene mit eigenen Erlebnissen von seiner Flucht aus Westpreußen, die er als 10-jähriges Kind mit ansehen musste. Ich bemerkte, dass nur sehr wenige Frauen gelegentlich aus ihrem persönlichen Erleben bei der Flucht erzählten. Sie wechselten – besonders bei Nachfragen – lieber zu kulturellen Themen oder suchten sich bei der Organisation der Treffen nützlich zu machen. Das änderte sich kurz nach dem Beitritt der neuen Länder in die Bundesrepublik 1990. Die Frauen, die als Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ/DDR gelebt hatten, wollten nun endlich offen über ihr Schicksal sprechen. Sie bemühten sich um Informationsmaterial suchten Antworten auf ihre Fragen, egal, ob aus der Geschichte, Kultur oder Politik. Es gab viel Zulauf in unseren Verband. Sie ließen nicht locker und forderten Entschädigung dafür, dass sie besonders hart unter dem Heimatverlust hatten leiden müssen. Dadurch öffneten sich die Diskussionen in der Allgemeinheit und unter den Vertriebenen und bisher unterdrückte Themen wurden stärker berücksichtigt.
b) Öffentlichkeitsarbeit
In der Presse, im Fernsehen und in den sozialen Medien entstand Ende der 90er Jahre wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan ein verstärktes Interesse an Zeitzeuginnen aus der Kriegs-, Flucht- und Vertreibungsgeschichte des 2. Weltkrieges. Ich erkannte, dass die Kinder und vor allem auch die Frauen im europäischen Osten und Südosten Unglaubliches erlebt hatten, als die Kriegsfront über sie hereinbrach: Ob sie geflüchtet waren, die Flucht geschafft hatten oder dem Tod und der Gewalt entrinnen konnten – sie waren aufs Unmenschlichste verwundet und geschockt und mussten dennoch weiter funktionieren. Dies führte zur Traumatisierung, ein Begriff, der als ein wesentliches Merkmal der Folgen des 2. Weltkrieges gilt. Aber wer hat das als solche erkannt? Es wurde damals noch nicht thematisiert und die Frauen hatten so lange geschwiegen, weil sie nicht darüber sprechen konnten. Die Wunden waren noch nicht geheilt. Erst mehr als 40 Jahre danach haben die Kriege auf dem Balkan Traumatisierung zu einem öffentlichen Thema gemacht. Es sollte noch weitere 20 Jahre dauern, bis die Politik sich zu einer Anerkennungsleistung der besonders schweren Kriegsfolgen für die Frauen und Kinder durchrang.
Der Frauenverband im BdV, hatte zwar schon etwa 1980 damit begonnen, Petitionen an den Bundestag zu schicken, um auf diesen Mangel hinzuweisen. In unseren Vertriebenengruppen wurden diese Themen erst aufgenommen, als der Frauenverband im Programm des Mitarbeiterkongresses 1998 auf einer Arbeitsgruppe zum Thema Vergewaltigung bestand. Es gab zu der Zeit nur an zwei Universitäten -Hamburg und Jena – an denen Psychologinnen dazu Forschungen aufgenommen hatten. Weil sich 2005 der 60. Jahrestag des Kriegsendes näherte, haben wir beschlossen, vertriebene Frauen in ganz Deutschland in einer Fragebogenaktion aufzufordern, ihre Erlebnisse zu schildern. Selbst das hat noch keine wesentliche öffentliche Wirkung erzielt, außer einen kurzen Fernsehbeitrag in der Berliner Abendschau. Wenigstens konnten wir die Ergebnisse wissenschaftlich auswerten lassen und auf einer eigenen Internetseite www.vertriebene–frauen.de weltweit publizieren. Von unserer entsprechenden Pressekonferenz gab es dann einen aktuellen Radiobeitrag.
Es gab noch viele andere Themen, die erst nach und nach bearbeitet und z.T. öffentlich gefördert wurden: Der Frauenverband hat in den Jahren 2006 bis 2012 mehr als zwanzig öffentliche Veranstaltungen in Berlin unter dem Titel „LANGE SCHATTEN – Folgen von Krieg, Flucht und Vertreibung“ organisiert. Es gab Lesungen, eine Filmpremiere, eine Unterschriftenaktion, Pressekonferenzen, Podiumsdiskussionen mit Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung mit bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten. Immer achteten wir darauf, dass Zeitzeugen zu Wort kommen konnten. Vielen von ihnen war das Auftreten in der Öffentlichkeit noch unbekannt. Die Darstellung ihrer Erlebnisse berührte Emotionen, die weit zurück lagen, jedoch waren die Erinnerungen verdrängt worden. Das Misstrauen gegenüber Sensationsjournalismus war berechtigt und Fragen nach Scham oder Schuldgefühlen konnten die Frauen unvorbereitet treffen und ungewollt zu Kontroversen führen, waren aber nicht zu vermeiden. Deswegen hat der Frauenverband betroffene Frauen, die bereit waren, sich interviewen zu lassen, in Seminaren vorbereitet. Dort formulierten sie ihre Erinnerungen, ließen diese von den Anwesenden überprüfen und konnten so eine Sicherheit gewinnen und verständlich, sachlich und authentisch vom grauenhaften Geschehen berichten. Interessierte Journalisten bekamen Adressen und Namen von Betroffenen immer erst nach vorheriger persönlicher Rücksprache und nur mit dem persönlichen Einverständnis zu einem Interview. Manchmal begleiteten wir die Interviewten vorher, während oder nach den öffentlichen „Auftritten“ und konnten so beiden Seiten zum Erfolg verhelfen. Im Archiv des Frauenverbandes liegen etliche Ton- und Bilddokumente über die Veranstaltungen und die individuellen Interviews.
Traditionell veranstaltete der Frauenverband Wochenendtagungen und Seminare, in denen wir unsere Themen breit diskutierten. Sie fanden in unterschiedlichen Regionen und Städten statt: Im Norden war das Pommernzentrum Travemünde regelmäßiger Tagungsort. Die Tagungsstätten einzelner Landsmannschaften wurden ebenso im jährlichen Rhythmus genutzt. Auch in zentral gelegene Hotels in Erfurt, Weimar, Kassel, Jena, Suhl und Göttingen wurde eingeladen. In Kooperation mit dem Deutschen Frauenring e.V. wurde 2004 ein internationaler Kongress in Travemünde mit Teilnehmern von fast allen Ostseeanrainerstaaten durchgeführt. Es gab Simultanübersetzung in vier Sprachen zu zwei Themen: ‚Gleichberechtigung von Frauen in Europa‘ und ‚Frauenrechte und Kulturgeschichte mit Kochkunst‘. Bei den eigenen Tagungen waren in den allermeisten Fällen Teilnehmerinnen aus den Heimatgebieten dabei und daher wurde zunehmend Simultanübersetzung in zwei bis drei Sprachen angeboten.
Unser Angebot erzielte ganz allmählich Aufmerksamkeit und Interesse zu allem, was Flucht und Vertreibung ausgelöst hat und wie die Folgen bis heute nachwirken. Der Begriff der Erlebnisgeneration hat sich manifestiert und die den Betroffenen folgenden Generationen, nennen sich inzwischen Kriegskinder und Kriegsenkel. Das Thema Traumatisierung taucht in mehreren Aspekten auf.
Viele Referentinn/en hat der Frauenverband ausfindig gemacht und zu ihnen Kontakt aufgenommen, weil uns Literatur oder Filme, wie DIE FLUCHT und DER UNTERGANG DER WILHELM GUSTLOFF auffielen, weil
wissenschaftliche Arbeiten in Planung waren, Journalisten darüber berichteten oder weil andere Fachrichtungen die Traumatisierung ganz praktisch schon thematisiert hatten, wie z.B. in der Altenpflege, in der Erwachsenenbildung, in Kunst und Kultur, usw. In manchen Fällen waren die von uns gesetzten Themen neu und prägend für die weitere Diskussion in der Öffentlichkeit, die sich kontrovers immer wieder an der von der Präsidentin des BdV, Erika Steinbach, MdB, und Peter Glotz gegründeten
„Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen“ rieb. Der Frauenverband war für ein Dokumentationszentrum von Flucht und Vertreibung der Deutschen und brachte sich durch seine Veranstaltungen aktiv und substantiell in die öffentliche Diskussion ein. Zunehmend war auch Anerkennung in den fördernden Ministerien zu bemerken. Andere Organisationen der Vertriebenen waren früher in der politischen Diskussion ausgegrenzt oder nicht beteiligt worden, aber der Frauenverband konnte bei anderen Frauenverbänden und im Dachverband Deutscher Frauenrat Aufmerksamkeit erringen und – was wertvoller war – auch Unterstützung bekommen, um bessere öffentliche Aufmerksamkeit und Förderung zu erhalten.
Schon im Jahr 2001 wurde in Berlin ein Gedenkstein auf dem Friedhof Neuköllns in der Lilienthalstrasse aufgestellt, der folgendermaßen erinnert:
Gegen Krieg und Gewalt. Es mahnen die Opfer von Vertreibung, Verschleppung und Vergewaltigung: Unschuldige Kinder und ihre Mütter, Frauen und Mädchen. Ihre Leiden in den Wirren des 2. Weltkrieges und danach sollen unvergessen bleiben – um zukünftiges Leid zu verhindern. Der Text wurde von unserem Frauenverband vorgeschlagen. An der Einweihungsfeier nahmen viele Frauen teil und bis heute liegen immer Blumen an dem Stein, der ein Ort des Gedenkens geworden ist. Die Idee dazu kam vom Ring deutscher Soldaten, und der Ostpreußin Hildegard Rauschenbach, die den Kontakt herstellte zu den Stellen im Ministerium und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Der Stein ist nachempfunden einem Stein im Schadrinsk, einem Ort in Sibirien in dem Frau Rauschenbach nach 1945 Zwangsarbeit leisten musste.
Erst im Jahr 2016 gab es einen Bundestagsbeschluss zur Auszahlung von bis zu 4000 € pro Person, wenn sie Internierung, Deportation, und Zwangsarbeit erlitten hatte. Es ist beschämend, dass trotz unserer Anstrengungen die meisten Betroffenen (Frauen, Kinder und wenige Männer) längst verstorben waren und ihre Erlebnisse mit ins Grab nehmen mussten. Sie konnten die
„Anerkennung ihrer besonderen Last am Ende des 2. Weltkrieges und danach“ leider nicht mehr beantragen und erhalten.
Was ist mir wichtig im Leben?
Flucht und Vertreibung ist ein Thema meines Lebens und mir wichtig geworden. Die Auseinandersetzung mit diesem Thema und die Aufarbeitung der menschlichen Schicksale der deutschen Vertriebenen bekommen nach meiner Meinung viel zu wenig Aufmerksamkeit. Die Vorkriegszeiten, die Zwischenkriegszeiten, der Nationalsozialismus und der 2. Weltkrieg werden an vielen Stellen der deutschen Bildungs- und Gedenkkultur aufgearbeitet. Mit der Nachkriegszeit tun wir uns noch schwer, obwohl es inzwischen wieder kriegerische Auseinandersetzungen sogar direkt vor unserer Haustür in Europa gibt.
Ich frage mich, warum die Traumatisierungen innerhalb unserer eigenen Familien nicht mit größerer Aufmerksamkeit bedacht werden? Lasse ich mich persönlich ansprechen? Ich widme mich doch vielen allgemeinen Aufgaben, die außerhalb der eigenen Erlebnisse und unseres persönlichen Lebensbereiches liegen. Ich unterstütze die Durchsetzung der Menschenrechte in aller Welt, die Arbeit für den Frieden über den Kriegsgräbern Europas und pflege die Verständigung mit Deutschen und Bürgern anderer Nationalität durch Besuche, Projekte und Einladungen.
Ich weiß aber auch, dass der Einfluss, den ich nehmen kann eine Grundlage braucht, die meine Anstrengungen erst zum Erfolg werden lassen. Ich brauche dazu Kraft und Weisheit. Ich gründe meine Aktivitäten auf meiner Erziehung und Bildung, die ich in der Bundesrepublik Deutschland erleben durfte. Aber ganz persönlich ist mir am wichtigsten mein Glaube an Jesus Christus und die Liebe, die ich durch Sein Wort in der Bibel in Seiner Kirche und Gemeinde erlebe. Ich lebe aus Seiner Gnade, und Sein Wort ist mir Richtschnur für meine Taten und Ziele. Das soll mich begleiten bis zum Grab auf dem Kirchhof in Berlin, auf dem meines Vaters gedacht wird und meine Großeltern und mein Ehemann ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Was möchte ich der Jugend mit auf den Weg geben?
Flucht und Vertreibung, das hört nie auf. Ebenso wird auf der Erde Krieg, Streit und Gewalt bleiben, denn wir Menschen haben es bis heute nicht zu verhindern gewusst. Wir sollten uns dennoch weiter darum bemühen, die Augen offen zu halten und die Politik und die Bildung mitzugestalten nach Grundsätzen, die sich bewährt haben: Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst und denke daran, dass es Werte des Lebens gibt, die schon in der Bibel beschrieben wurden und von Menschen praktiziert werden sollten.
Die uns nachfolgenden Generationen haben andere Interessen als wir. Das ist schon immer so gewesen: Sie wollen ihre eigenen Erfahrungen machen und merken erst spät, dass zu ihren Wurzeln das Leben der Älteren gehört. Manchmal ist es zu spät und die Fragen können nicht mehr persönlich erörtert werden, weil die Vorfahren krank oder schon verstorben sind. Solange man die Eltern und Großeltern noch hat, wird ihr Wert nicht immer erkannt. Zeitzeugen aus der Vergangenheit werden im familiären Leben oft zu wenig gehört oder finden kaum Interesse.
Deshalb ist es wichtig, dass wir selbst Spuren hinterlassen von dem, was uns wichtig ist. Das bedeutet, dass ich mich bemühe, mein Leben und das Zeugnis darüber archiviert zu hinterlassen:
- Artikel und Manuskripte aufheben.
- Bücher und Dokumente an Dokumentationsstätten verschenken, sofern man sie nicht innerhalb der Familie gezielt vererben will.
- Bilder ordnen und beschriften.
- Die Familiengeschichte übersichtlich rekonstruieren, mit dem Stammbaum.
- Lebenslauf schreiben, mit Fakten und Geschichten füllen und rechtzeitig damit anfangen.
- Material von Veranstaltungen sortieren und an ein Archiv, eine Vertriebenenorganisation (Landsmannschaft) oder ein Museum geben.
- Das Material aus den Gruppen an Nachfolgerinnen weitergeben.
Früher gingen alte Menschen ins Altenteil – ein kleines Häuschen mit nur dem Nötigsten. Alles andere wurde den Kindern und Nachkommen überlassen, weil sie es besser nutzen konnten. Heute geht es um mehr als nur das legendäre unsichtbare Gepäck, das die Vertriebenen haben: Die gesammelte Lebenserfahrung sollte hinterlegt werden, denn wir wissen nicht, wann wir das Zeitliche segnen. Dann sollte das Material unseres Lebens nachlesbar und nachvollziehbar im Familienarchiv oder in Dokumentationsstätten vorhanden sein und zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen.
Wenig wurde bei Flucht und Vertreibung gerettet. Daher ist das von uns in der 60-jährigen Verbandsarbeit erarbeitete Material besonders kostbar und für die Nachfahren zu sichern.
Warum schätze ich meine Nachfolgerin?
In meinem langen Bericht ist immer wieder von dem Frauenverband die Rede. Damit ist ein kleiner Vorstand gemeint, der eine Präsidentin mit viel Vertrauen und Freiheit ausstattet, damit sie ihre Ideen entsprechend der Satzung kreativ umsetzen kann. Sie wird effektiv unterstützt von einer Schatzmeisterin, die jahrelang auch für mich eine unersetzliche Hilfe und wirksame Verstärkung war. Die Präsidentin ist einerseits mächtig, steht aber oft ohnmächtig und winzig vor den Bergen der Verantwortung und fühlt sich manchmal allein oder einsam als Vertreterin einer großen Menge von vertriebenen Frauen und ihren Nachfahren. Diese Last kann drücken oder beflügeln. Eine Balance zu finden ist auf Dauer nicht zu bewältigen und so nahm ich Ausschau nach einer Nachfolgerin. Ich fand sie in Dr. Maria Werthan, die ich um ihre Kandidatur bat, damit ich zurücktreten konnte.
Sie hat sich vorbereitet, indem sie zu den Veranstaltungen kam. Sie lernte andere Verbände im Deutschen Frauenrat kennen und verschaffte sich auch in dem Bereich einen Einblick. Sie ließ sich auf die Arbeit ein und setzte eigene Akzente, entließ mich aber nicht aus der Verantwortung, im Vorstand als Stellvertreterin weiter mitzuarbeiten. Ich konnte ihr die vorhandenen Strukturen und Möglichkeiten erklären. Auch Versäumtes konnten wir besprechen. Als ich nicht mehr kandidieren wollte, übernahm sie die Aufgaben des Frauenverbandes mit großem Engagement.
Sie hat aus eigener Erfahrung den Fokus verstärkt auf andere Vertreibungsgebiete legen können als ich, denn sie hat ihre Heimat im Südosten Europas (Banat) verlassen müssen. Sie hat die Veranstaltungen mit eigenen Themen und Akzenten weitergeführt. Sie hat die Jugend aus dem Osten einbezogen und sie vorbereitend und aktiv zum Tagungsthema arbeiten lassen, was in den Seminaren dann diskutiert und weiterentwickelt wurde.
Sie hat die Herausgabe der Tagungsbände mit den interessanten Manuskripten der Referentinn/en fortgeführt und dadurch eine Öffentlichkeitsarbeit anderer Art geschaffen – nämlich regelmäßig aus Mitteln der öffentlichen Hand. Sie hat mit Hilfe einer Juristin im Vorstand die Satzung modernisieren lassen und sie dem allgemeinen gesellschaftlichen Wandel auch innerhalb unseres Verbandes angepasst.
Ein besonderes Angebot an unsere Mitglieder sind die öffentlich geförderten Reisen einmal jährlich, die in verschiedene Heimatgebiete führen. Ein anspruchsvolles Programm ermöglicht lebendige Kontakte zur Bevölkerung und zur jeweiligen deutschen Minderheit, lässt aber Raum für kulturelle
Entdeckungen und Begegnungen vor Ort. Das ist eine wichtige Verständigungsarbeit mit neuen Kontaktmöglichkeiten in der Zukunft. Inzwischen reichen die Fühler des Frauenverbandes nicht nur in den Osten und Südosten Europas, sondern bis nach Japan! Flucht und Vertreibung hören niemals auf und das sichert auch die Notwendigkeit zukünftiger Frauenverbandsarbeit: Mit all unseren Erfahrungen können wir Wichtiges beitragen in unserem Land, denn wir sind einer der zahlenmäßig größten Verbände, existieren schon länger als 60 Jahre und haben noch viele Aufgaben.
Gott stehe uns bei und stärke unsere gemeinsame Arbeit für Frieden und Verständigung!
Respekt und Anerkennung für unsere Vizepräsidentin, Frau Sibylle Dreher, langjährige ehemalige Präsidentin des Frauenverbandes im BdV e. V.
Nachwort von Dr. Maria Werthan
Beginnend mit der ersten Tagung, so um die Jahrtausendwende, die ich unter Leitung von Frau Dreher als Präsidentin besuchte, war ich fasziniert und gerührt, weil ich spürte, dass sie Kernthemen behandelte, die unser Selbstverständnis als Vertriebene und als Aussiedler Frauen betreffen.
Nach der Wiedervereinigung setzte sich die damalige Präsidentin, Frau Dreher, für die Erweiterung der Verbandsstrukturen und die Einbindung der Frauen aus Mitteldeutschland in den Bund der Vertriebenen ein. Diese Frauen tragen und prägen bis heute unser Verbandsleben entscheidend mit.
Wie unsere Vizepräsidentin selber schreibt, hat sie die Vertriebenenarbeit mit der Muttermilch aufgesogen. Siebzehn Jahre lang hat sie den Verband kompetent, streng und kämpferisch nach Innen und nach Außen vertreten. Gemeinsam mit ihren Geschwistern hat sie verantwortungsvolle Aufgaben im Bund der Vertriebenen wahrgenommen. Die Arbeit für den Frauenverband und die Sorge um die Zukunft der Vertriebenenarbeit sind bis heute wichtige Tatbestände ihres Lebens.
Das Ausmaß von mehr als anderthalb Jahrzehnten erfolgreicher konzeptioneller Arbeit lassen sich im begrenzten Rahmen nur ungenügend darstellen und würdigen, gerade weil Frau Dreher ihre Aufgaben mit Herzblut erfüllt hat. Zwei Themen liegen ihr besonders am Herzen. Es sind die Zeitzeugenarbeit und die Einbeziehung der Jugend. Zur Sicherung der Erfahrungen der deutschen Zwangsarbeiterinnen in der Sowjetunion hat sie ein Forschungsprojekt in die Wege geleitet. Sie hat die Frauen bestärkt, als Zeitzeuginnen aufzutreten und ein Zeitzeugenarchiv aufgebaut. Ihr Vermächtnis an die junge Generation hat sie in diesem Beitrag festgeschrieben. Sie plädiert für einen achtsamen Umgang mit der eigenen Familiengeschichte, zwecks Fortschreibung der Erinnerungskultur der Vertriebenen. Frau Dreher praktiziert diese Aufgabe in vorbildlicher Weise; sie schreibt zur Zeit ihre Autobiografie und ordnet ihre Unterlagen aus ihrer Zeit als Präsidentin zur Abgabe an das Frauenarchiv.
Wir ehren mit diesem Beitrag eine starke Präsidentin des Frauenverbandes, die kämpfte, um den vertriebenen Frauen eine Stimme zu geben, deren Selbstbewusstsein zu stärken, die Verbandsfrauen untereinander und mit anderen Frauen in Deutschland und Osteuropa zu vernetzten.
Da ich als Quereinsteigerin zum Verband kam, war es für die Verbandsarbeit sinnvoll, dass Frau Dreher weiterhin aktiv im Frauenverband blieb. Für mich bot sich die Chance, Schritt für Schritt in die großen Schuhe von Frau Dreher als Präsidentin hineinzuwachsen. Ich danke der Vizepräsidentin, Frau Dreher, für das in mich gesetzte Vertrauen und schätze es, wenn sie mir die Möglichkeit gibt, die junge Frauengeneration in die Verbandsstrukturen einzubinden.
Den Auftrag unserer Vizepräsidentin an uns wollen wir verinnerlichen: Es bleibt noch viel zu tun für uns und die nachfolgenden Generationen!
Wir Frauen danken Ihnen / Dir, liebe Vizepräsidentin für den jahrzehntelangen Einsatz für die Vertriebenen und Aussiedler Frauen und wünschen Ihnen / Dir Gesundheit und Zuversicht für die Zukunft!