Aber wohin sie auch fliehen, überall nehmen sie ihre Enttäuschung mit Überall erscheinen sie mit der düsteren Tragik der verstoßenen Engel…
Stefan Zweig
Mit meinem ganzen Ich habe ich mich von den Aussagen der Autoren berühren, stören und anregen lassen. Manche Aussagen kann ich verstehen, andere verletzen mich und wieder andere fordern mich heraus.
Die Vorgehensweise, die mich am meisten verletzt und empört hat, möchte ich gleich zu Beginn ansprechen. Die Würde der Menschen ist für mich gleich hoch, gleich weit, gleich breit und gleich tief. Mit anderen Worten gesagt, jedem Menschen gebührt unabhängig von der Hautfarbe, Sprache, Religion… die gleiche Achtung. Für mich ist es deswegen nicht nachvollziehbar und nicht akzeptabel, wenn Autoren die Bezeichnungen für Dunkelhäutige „Schwarz“ oder „People of Color“ als politische Kategorien deklarieren und groß gegenüber „weiß“ für Hellhäutige klein schreiben. Die Vorgehensweise empfinde ich als Hellhäutige als würdelos.
Einen Teil der Klagen und Schelten verstehe ich als Stationen auf dem Wege der Identitätsklärung oder auch als eine Suche nach Heimat. Heimat als Ort, an dem Menschen sich nicht erklären müssen und als ein Ort, an dem Menschen sich geborgen fühlen.
Simone Dede Ayvi verbindet ihren Heimatbegriff mit den Menschen mit denen sie um ein besseres Leben für alle kämpft: „Ich glaube nicht an Heimat. Ich glaube an Heimaten. Das können besondere Orte sein, denen wir uns ewig verbunden fühlen, egal, wie weit wir weg sind, und egal, wie lange wir schon nicht mehr dort waren. Doch meistens sind es Menschen, die uns vertraut sind und denen wir vertrauen. Zu Hause ist, wo ihr seid.“ (Vgl. Ayvi S. 194)
Vina Yun schwärmt von den Düften und Genüssen der koreanischen Küche, die für sie ein Stück Heimat und ein Stück Identität bedeuten. Das aus dem Herkunftsland vertraute Essen bietet ihr Gewissheit und Geborgenheit in der Fremde. (Vgl. Yun S. 140 ff.) Enrico Ippolito analysiert die Spuren des strukturellen Rassismus in der deutschen Gesellschaft im Rahmen eines freundschaftlichen, mitunter reflexiven Dialogs. Jene, die ihn als Kanaken und Spaghettifresser bezeichnen, stempelt er als Kartoffel (S. 92) ab. Das ist nicht der einzige Anlass, um die Aussagen der Autoren mit dem von ihnen angeprangerten strukturellen Rassismus zu konfrontieren.
Deniz Utlu brandmarkt Rassismus als „ein System das über viele Jahrhunderte gewaltvoll durch Versklavung und Genozid etabliert wurde und für das pseudowissenschaftlich ein Common Sense geschaffen werden musste, der unser aller Weltbild bestimmt, sowohl das der Belasteten als auch das der Privilegierten.“ (vgl. Utlu S. 47) Fazit: Rassismus ist kein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Gesellschaft. Das soll weder als Entschuldigung für etwaige Rassisten in der deutschen Gesellschaft dienen, noch als Argument für die Gegenseite, um den Dreschflegel rauszuholen und auf „die deutschen Rassisten“ loszuschlagen. Es sollte vielmehr für beide Seiten ein Moment des Innehaltens und des Nachdenkens über die Fragen begründen: Wie will ich selber von Anderen behandelt werden? Gestehe ich, das für mich eingeforderte Privileg, auch den Anderen zu? (Kant´scher Imperativ) Des Weiteren bemängelt Deniz Utlu das fehlende Vertrauen des Staates gegenüber Migranten. Dabei geht er vom Fall Kurnaz, einem der Guantanamo-Internierten aus, für dessen Rückkehr sich der deutsche Staat zu wenig eingesetzt hätte. Da Kurnaz, der in Deutschland aufgewachsen ist, türkischer und kein deutscher Staatsbürger war, taugt sein Fall nicht, um über das fehlende Vertrauen des deutschen Staates in seine Bürger zu sprechen. An dieser Stelle hätte Herr Utlu sachgerecht das Vertrauen des türkischen Staates in seine Bürger erörtern können. Fakt bleibt, dass Bundeskanzlerin Merkel, aus humanitärer Gesinnung und nicht aus staatsrechtlicher Verpflichtung, der Rückkehr von Kurnaz nach Deutschland zugestimmt hat. Nicht widersprechen kann man dem Vertrauensverlust von Migranten zum deutschen Staat, wenn es um die NSU Morde geht.
Max Czollek thematisiert die Rolle von Juden und Migranten im Prozess der deutschen „Selbsterzeugung“, sprich Identitätsfindung. „Zwischen Juden und Deutschen passt im Gedächtnistheater kein Blatt mehr. Auch nicht in diesem Essay. Der Verweis auf die Deutschen ist wichtig, weil es auf den Ort verweist, von den aus das Begehren nach Läuterung überhaupt erst verständlich wird. Wer möchte von sich aus glauben, dass sie keine Nazis mehr sind?“ (vgl. Czollek S. 170)
Bei aller Trauer und Zorn über die Shoah muss ich die Fragen in den Raum stellen: Ist es zulässig, alle heute lebenden Deutschen als Nazis zu bezeichnen? Ist es ein Vergehen, wenn Deutsche anlässlich der Fußballweltmeisterschaft die Fahnen schwenken und die Nationalhymne singen? Haben Deutsche kein Recht auf Identität? Wohlgemerkt, gemeint ist Identität als Gleicher unter Gleichen in der Gemeinschaft der Völker. Gegen das Integrationsparadigma, welches laut Czollek als Vehikel völkischen Denkens fungiert, setzt derselbe das Konzept der Desintegration. Er fordert dazu auf, die Antwort auf die vermeintlich zwingenden Fragen nach der Herkunft zu verweigern. Wörtlich: “Die Lüge. Die Fiktion. Das Schweigen.“ (vgl. Czollek S. 180) Es steht jedem frei aufrichtig und offen oder auch nicht zu sein. Zu fragen bleibt: Erstens, ob eine Selbstverleumdung der Identitätsfestigung der Betroffenen dient? Zweitens, was bewirkt eine dauernde massenweise Abwehrhaltung für das Miteinander in der Gesellschaft? Ist ein desintegriertes Gesellschafts- und Staatswesen das Zukunftsmodell, welches wir den jungen Menschen von heute empfehlen wollen?
Ich selber werde als Aussiedlerin nach 40 Jahren regelmäßig wegen meinen anderen Akzents, rollenden R-s in der Aussprache, nach meiner Herkunft gefragt. Die aus dieser Frage entstehenden Gespräche möchte ich nicht missen. Sie sind für mich ein Geschenk. Dem Desintegrationskonzept kann ich nur meine eigene Zugangsweise auf die bundesrepublikanische Gesellschaft gegenüber stellen: Heimat erarbeiten. Sich offen mit den gesellschaftspolitischen und kulturellen Gegebenheiten sowie mit den Menschen auseinander zu setzen und zu fragen: Was will ich für diese Gesellschaft tun? Denn eine Demokratie lebt von der Verpflichtung des selbstbestimmten Individuums für das Gemeinwohl.
Mithu Sanyal bejaht die zusammenschweißende Kraft eines gesellschaftlichen Identitätskonzepts. Zugleich betont sie die Notwendigkeit eines sozialen Konsenses für eine stabile Demokratie. Sie spricht von Demokratie als Werte- und Vertrauensgemeinschaft, wobei sie im Sinne von Moody Adams civil sacrifice, die Einsatzbereitschaft für das Gemeinwohl unterstreicht. Im Weiteren fordert sie, dass die neuen Deutschen Teil des Erinnerungskulturdiskurses werden. (vgl. Sanyal S. 114 ff.)
Der Ansatz von Mithu Sanyal ist, abgesehen von der Erinnerungskultur, breiter demokratischer Konsens in der deutschen Bevölkerung. Zu Fragen bleibt, wie viele aus der Masse der Migranten tragen diesen Konsens mit? Zum Thema Erinnerungskultur möchte ich zwei Anmerkungen machen. Erstens sind Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur langfristige Prozesse. Zweitens, wessen Geschichte von den weit über hundert Ethnien, die mittlerweile nach Deutschland emigriert sind, soll denn neben der deutschen thematisiert werden?
Margarete Stockowski plädiert für die zweisprachige Erziehung von Migrantenkindern. In der muttersprachliche Erziehung sieht sie einen wichtigen Baustein für die Entfaltung der kindlichen Identität. Sie spricht von der Verantwortung der Schulen für die Sprachfähigkeit der Migrantenkinder, erwähnt aber mit keinem Wort den dringend notwendigen Beitrag des Elternhauses bei der Erlernung der deutschen Sprache. (Vgl. Stockowski S. 153 ff.)
Aufgrund der gegensätzlichen Einschätzung von Identität und der damit eng verbundenen Wertekultur durch die Autoren möchte ich auf die grundsätzliche Bedeutung einer gefestigten Identität und einer verbindlichen Wertekultur für die Stabilität von Individuen und Gesellschaften hinweisen. Das Konzept von Erikson umschreibt die Ich-Identität als Entität, als zusammengehöriges Ganzes. Aus dieser komplexen und vielschichtigen Identität heraus verarbeitet das Ich die Wirklichkeit in einem fortwährenden Prozess. Um eine gefestigte Identität zu entwickeln, brauchen Jugendliche einen Wertekompass. In den Zeiten der Globalisierung finden Jugendliche aufgrund der verwirrenden Vielzahl von Angeboten in der vernetzten Welt keinen einheitlichen Wertekanon vor. Vielmehr sind sie gefordert, aus dem Kosmos der Werte und Identitäten Bausteine für die eigene Identität auszuwählen. Das kann für den Einzelnen eine kreative Chance zur Selbstverwirklichung oder eine unzumutbare Überforderung mit der Folge der Entwurzelung darstellen. (Vgl. Wißmann S. 48ff) Die Verbindlichkeit von Werten hat nicht nur für die Phase der Identitätsfindung von Jugendlichen sondern auch gesamtgesellschaftlich eine tragende Bedeutung. Laut Gille (vgl. Gille S. 147) sichert die Verbindlichkeit von Werten sowohl die soziale Integration des Individuums in die Gesellschaft als auch die Integration von gesellschaftlichen Teilbereichen in die Gesamtgesellschaft und die Systemstabilität.
Das überaus sensible Thema der sexuellen Gewalt von ausländischen Männern gegenüber Frauen in Deutschland wird von der Mehrzahl der Autor-Innen als Medienerfindung (vgl. Czollek, S. 171, (Vgl. Grjasnowa S. 130 f.), Yaghoobifarah S. 77, Shehadeh S. 127) oder toxic masculinity abgetan; natürlich ohne den Zusatz, dass Männer mit einer patriarchalischen Sozialisation aus dem außereuropäischen Raum seit 2015 vermehrt in Deutschland leben. Seitdem ist die Sicherheit für Frauen im öffentlichen Raum gefährdet. Das Thema ist so virulent, dass selbst die öffentlichen Medien nicht schweigen können: „Sicherheit für Frauen in der Dunkelheit. Hier und heute. 21.11.2019. 10:10 Min.. Verfügbar bis 21.11.2020. WDR“. Sexuelle Übergriffe bedrohen Leib und Leben von Frauen. Sie zerstören ihre Seele. Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass es sich um eine reale Bedrohung von Frauen handelt: 2019 wurden 5.929 Fälle von sexueller Nötigung und 9.426 von Vergewaltigung und sexueller Nötigung polizeilich erfasst (Vgl. de statis). Bei über 15.000 Fällen pro Jahr sprechen wir von 420 Angriffen pro Tag auf die Integrität von Frauen und Mädchen in der Bundesrepublik Deutschland. Ebenfalls negiert wird die real existierende Clankriminalität in deutschen Städten. (Shehadeh S. 126 f.) Die Probleme sind hinlänglich bekannt. Ich werde mich in diesem Fall nicht um die zahlreichen Belege aus der Kriminalstatistik bemühen. Weder Verschweigen noch Leugnen, noch der sozialpädagogische Umgang mit hochkriminellen Personen und Strukturen können unsere Gesellschaft vor dieser Bedrohung schützen, sondern nur der konsequente Einsatz von rechtsstaatlichen Mitteln.
Hengameh Yaghoobifarah setzt sich mit den diskriminieren verletzenden Erfahrungen von Migranten, Lesben, Schwulen, Queeren… auseinander. Sie spricht vom „white gaze / weißen Blick“ (vgl. Yaghoobifarah S. 74) als eine Art Kameralinse aus der die deutsche Gesellschaft die Fremden und Andersartigen betrachtet. Ihre abgrenzenden Tendenzen gegenüber Deutschen / Weißen belegen jedoch, dass auch sie selber nicht frei von Vorurteilen ist. Deswegen sei hier der Hinweis zur Selektivität menschlicher Wahrnehmung gestattet. Unsere individuellen Wahrnehmungen sind äußerst subjektiv und selektiv, weil sie durch unsere Erziehung, Erfahrungen, Erwartungen, Einstellungen, Werte, Denkmuster, Wahrnehmungsweise, Interessen, Emotionen und Ängste gefiltert werden. (vgl. Stangl, 2020). Die Sozialisation und Erziehung von Menschen in unterschiedlichen Kulturkreisen macht das Zusammenleben nicht einfach, weil man sich gegenseitig durch different geprägte Filter wahrnimmt. Diese psychologische Erkenntnisse von der Perspektivität und Subjektivität von Wahrnehmungen sollte jeder verantwortungsbewusste Akademiker bedenken. Der im Weiteren von Yaghoobifarah beklagte und viel beobachtete Vorgang, als Kind zwischen Eltern und öffentlichen Einrichtungen und Privatpersonen dolmetschen zu müssen, ist bedauernswert. Aber diese Vorgehensweisen dürfen nicht von der Verantwortungspflicht der Migranteneltern ablenken, bei der Einwanderung in ein fremdes Land, die Landessprache zu erlernen und die Gesetze und Sitten des Landes zu respektieren, um die Zukunft der eigenen Kinder zu sichern.
Reyhan Sahin „Female Sexspeech“ möchte ich nicht weiter kommentieren: „Es wird bestimmt Leute geben, die diesen Text nicht mehr weiter lesen werden, weil sie meine Sprache zu vulgär finden und meinen ‚Female Sexspeech‘ nicht ertragen…“ (Vgl. Sahin S. 158)
Für Sasha Marianne Salzmann ist die Sichtbarmachung ihrer Andersartigkeit optionslos, weil sie der Beweis für ihre Existenz ist. Sie durchleuchtet mit kritischem Blick den Umgang der Mehrheitsgesellschaft und zweier ihrer queeren Repräsentanten mit Minderheiten unterschiedlicher Art. Sie setzt auf die Solidarität von Minderheiten, jenseits von Geschlechtsidentitäten oder Religionszugehörigkeiten: „Normal ist keine Autorität für uns. Wir werden füreinander da sein, wenn die Mehrheitsgesellschaft zuschaut und nicht eingreift. Wir müssen uns nicht in allem einig sein, wir müssen uns nicht einmal mögen. Aber wir wissen um die Kraft der Allianzen.“ (Vgl. Salzmann S. 26.)
Im Rückgriff auf Marianne Gronemeyer möchte ich fragen: Duldet die alles umspannende Welteinheitskultur mit den Idolen der technologischen Allmächtigkeit und der egozentrischen, konsumorientierten Individualität Räume mit lebendigen ethnischen, nationalen, familialen und religiösen Traditionen und mit gewachsenen Werten wie Nächstenliebe, Respekt vor den Ahnen und den Mitmenschen, Spiritualität und Anstand? (vgl. Gronemeyer S. 204) Wer eine tradierte humane und demokratische Wertekultur bejaht, wird schnell merken, dass die Konflikte nicht durch die andere Hautfarbe oder Sprache, sondern durch die Nichtakzeptanz des Anderen ausgelöst werden. Die gegenseitige Akzeptanz ist keine Einbahnstraße, sondern ein reflexives Geschehen.
Es ist eine paradoxe Bedingung unseres menschlichen Seins, dass wir einander fremd sind und füreinander unverständlich bleiben. Das gilt nicht nur zwischen den Migranten und den Einheimischen. Das gilt entschieden schmerzhaft auch für Liebende. Laut Ivan Illich (vgl. Illich S. 81) können wir jedoch über diese trennende Grenze hinweg Verbindung schaffen, wenn Du und Ich einander freundschaftlich anrühren, angehen. Sprich, im platonischen Sinne die Ebenbürtigkeit und die Einzigartigkeit des Anderen einer in den Augen des anderen spiegeln. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre, das Zuhören zu üben.
Jeder von uns hat Erwartungen an den Anderen, an die Gemeinschaft und an den Staat. Wenn wir die eigenen Erwartungen geklärt und reflektiert haben, können wir diese präzise formulieren und mit den wechselseitigen Erwartungen der Anderen abklären. So lange jedoch jede gesellschaftliche Gruppe die Erwartungen der Gegenseite ignoriert und als unberechtigt abtut, kann es keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt geben. Olga Grjasnowa missbilligt den Begriff der Migrationsliteratur. Ihrer Ansicht nach ist die Bezeichnung rassistisch und paternalistisch. (Vgl. Grjasnowa S. 136). Mit dem Begriff Migrationsliteratur wird, meiner Meinung nach, der Teilbereich der deutschen Literatur bezeichnet, dessen Autoren nicht in Deutschland geboren wurden. Damit wird ein Tatbestand umschrieben und keine Wertung für die Autoren oder ihr Werk abgegeben. Diese Kategorisierung hat nichts mit Rassismus zu tun. Wenn ich als Deutsche der chinesischen Sprache kundig bin, nach China auswandere und dort anfange zu schreiben, bin ich keine Chinesin und auch keine chinesische Schriftstellerin.
Fatma Aydemir setzt sich mit den Arbeitsleistungen von Migranten in Deutschland auseinander. Sie sieht in diesem Land „niemanden, der so hart arbeitet wie Migrant_Innen…“ (vgl. Aydemir S. 28) namentlich ihre Mutter, die drei Jobs gleichzeitig machte: „morgens Bäckerei, mittags Kartonfabrik, nachts Wäscherei“ (vgl. Aydemir S. 32). Als Gegenbild malt sie die deutsche Wohlstandgesellschaft: „Während also der überwiegende Teil der deutschen Wohlstandsgesellschaft ab den Sechzigern Minigolf spielte und schicke Autos fuhr, waren es die „Gäste“ aus Südeuropa, Nordafrika und der Türkei, die unter unwürdigen Bedingungen in den Fabriken schufteten, um diesen Wohlstand zu gerieren.“ (vgl. Aydemir S. 30) Im Zusammenhang mit den obigen Aussagen sind auch Frau Aydemirs Vorstellungen von Migration zu sehen: „Migration ist immer ein Versprechen auf ein besseres Leben, einen German Dream. Der German Dream meiner Großeltern war, etwas Geld zur Seite zu legen und damit ein Stück Land zu kaufen. Der German Dream meiner Eltern war, ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen und ein großes deutsches Auto zu fahren. Und was ist meiner? Ganz einfach: Ich will den Deutschen die Arbeit wegnehmen. Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die sie für sich reservieren wollen – mit der gleichen Bezahlung, den gleichen Konditionen und den gleichen Aufstiegschancen…“ (vgl. Aydemir S. 36 f.)
Lobenswert ist, dass Fatma Aydemir die Aufbauarbeit und den Fleiß ihrer Familienmitglieder wertschätzt. Fakt ist, Migranten müssen in jeder Gesellschaft eine zusätzliche Anpassungsleistung im Gegensatz zu den Einheimischen erbringen. Fakt ist zudem, dass neben den Deutschen die „Gastarbeiter“ seit den Sechzigern an der Erarbeitung des Bruttosozialprodukts, entsprechend ihrem zahlenmäßigen Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung, mitwirken. Dass beide Gruppen hart gearbeitet haben, steht außer Frage. Ob die Leistungen der Gastarbeiter immer genug gewürdigt wurden, kann ich nicht beurteilen. Informationen über das Wirken der Gastarbeiter sind in den deutschen Schulbüchern und in allen Medien zu finden. Wer sich jedoch mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation Deutschlands in den Sechzigern befasst, dem entgeht nicht, dass die Jahre des Aufschwungs und des Einstiegs in die Konsumgesellschaft sehr differenziert zu betrachten sind. Die Löhne der Arbeiter waren gering, die Arbeitszeiten lang, der Wohnungsmangel nicht behoben; noch lebten tausende Deutsche, vor allem deutsche Vertriebene, in Wellblechbaracken ohne Dämmung, der Besuch eines Gymnasiums oder einer Universität für Arbeiterkinder war die Ausnahme und ebenso unerschwinglich blieb vorerst für die meisten Arbeiterfamilien das sonntägliche Minigolfspiel und das eigene Auto. German Dream als Versprechen vom besseren Leben benennt die verständlichen Erwartungen von Migranten. Aber es ist kein Versprechen, dass die deutsche Seite abgeben könnte. Jeder, der in Deutschland lebt, ist für die Verwirklichung seiner Ziele und Träume selbst verantwortlich, weder die Regierung, noch irgendeine Institution oder Person, wird ihn von den Mühen und den Plagen, von den Kämpfen und den Niederlagen entbinden, die er auf dem Weg zu seinem Traumziel auszufechten hat. Das ist die Chance und auch die bittere Konsequenz der Leistungsgesellschaft für alle. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Sozialstaat. Das ist eine Rechtsgrundlage und das ist menschenwürdig. Doch wenn wir dieses grundlegende Prinzip erhalten wollen, müssen wir haushalten. Bei der Forderung nach materieller Teilhabe müssen wir zuerst den Kuchen sichten, der verteilt werden kann. Das sich verringernde Bruttosozialprodukt für 2019 beträgt 3,436 Milliarden Euro. Die Ausgaben im Bundeshaushalts 2020 stiegen auf 3,4 Milliarden Euro. Der um 6.8 % angestiegene Anteil des Ressorts für Arbeit und Soziales beträgt 155 Milliarden Euro. Aus dem Sozialbudget werden über 20 Milliarden für Integrationsaufgaben zur Verfügung gestellt, zusätzlich gibt es ca. 8 Milliarden für Sprachkurse. Der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung beträgt 12,5 %. (Vgl. statista für alle Daten)) Somit kommt ungefähr ein Fünftel des Sozialetats Teilen dieser Bevölkerungsgruppe zugute. Diese Zahlen besagen, dass unser Staat sich die Migration einiges kosten lässt. Vielleicht sollte man die Effektivität des finanziellen Mitteleinsatzes im Hinblick auf die Zielsetzungen der Integration überprüfen. Menschen, die im Traumland Deutschland leben wollen oder wie die Autoren glauben, im Alptraum Deutschland leben zu müssen, sollten wissen, wir sind eine Leistungsgesellschaft, die die Grundlagen für den Sozialstaat erarbeitet. Unbestreitbar ist: „Migration verändert Deutschland. Aber was ist daran Schlechtes?“ (vgl. Mithu S. 120) Hier möchte ich fragen: Ist es illegitim, wenn Deutsche das Ausmaß, die Intensität und das Tempo der Veränderungen mitbestimmen wollen?
Wenn ich die mehrheitlich äußerst subjektiven Buchbeiträge zusammenschaue, kann ich ihnen ihren leidvollen Erfahrungsgehalt nicht absprechen. Ich kann die Diskriminierungserfahrungen der Frauen und Männer leider nicht ungeschehen machen. Trotzdem bitte ich zu bedenken, dass jeder Mensch auf diesem Planet Ausgrenzungserfahrungen erlebt. Ein- und Abgrenzungsmechanismen sind soziologische Gruppenmechanismen (Vergl. Stangl 2011), die in allen menschlichen Gesellschaften existieren. Jede einzelne Gruppe muss ein Gleichgewicht zwischen Öffnung und Abgrenzung finden. Eine Gruppe, die danach strebt, sich ausschließlich und elitär abzugrenzen, kann auf Dauer nicht bestehen. Das gilt für die Mehrheitsgesellschaft und die Einwanderergruppen gleichermaßen.
Meine persönliche Meinung zur Mehrheitsgesellschaft möchte ich in diesem Zusammenhang preisgeben: Mehrheitsgesellschaften sind historisch gewachsene Tatsachen und mathematische Fakten. Das besagt jedoch nichts über die Strategien des Umgangs miteinander; diese sollten wir mit Bedacht und Verantwortung aushandeln. Von der migrantischen Elite erwarte ich, dass sie soziologische Konzepte und ihre Wirkungsmechanismen kennt, diese reflektiert und in ihr Wirken miteinbezieht, aber auch dass sie die Bundesstatistik zu den Bevölkerungszahlen als mathematisches Faktum akzeptiert.
Schließen möchte ich mit der Liebeserklärung von Sharon Dodua Otoo an Berlin: „Mein Zuhause ist ein Ort für den ich gekämpft habe. Ich habe gekämpft, damit ich mich wohl fühlen kann, Berlin als meine Heimat zu bezeichnen. Diesen Kampf zu führen ist Teil meiner Heimat geworden. Inzwischen liebe ich es.“ (vgl. Otoo S. 68)
Verwendete Literatur
Dede Ayvi, Simone: Zusammen. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 182-194.
Czollek, Max: Gegenwartsbewältigung. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019.Bedingung S. 167-180, hier S. 170.
GILLE, Martina: Werte, Rollenbilder und soziale Orientierung. In: GILLE, Martina/KRÜGER, Winfried (Hg.) (2000): Unzufriedene Demokraten. Politische Orientierungen der 16- bis 29-Jährigen im vereinigten Deutschland. Opladen, S. 143–203.
Gronemeyer, Marianne: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. Nachdenken über ein Paradox der Moderne. oekom Verlag 2018.
https://de.statista.com/themen/26/bip/
https://orbilu.uni.lu/bitstream/10993/15397/1/Michel%20Dormal%20Dissertation%20Digitalversion.pdf
https://www.deutschlandfunk.de/reihe-fragen-nach-identitaet-die-nation-vereinend-und.691.de.html?dram:article_id=407204
Illich, Iwan: In den Flüssen nördlich der Zukunft. Letzte Gespräche über Religion und
Gesellschaft mit David Cayley, München 2006.
Ippolito, Enrico: Beleidigung. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 82-100.
Otoo, Sharon Dodua: Liebe. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 56-68.
Sahin, Rehan: Sex. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 156-166.
Sanyal, Mithu: Zuhause. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 101-121.
Shehadeh, Nadia: Gefährlich. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir,
Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 122-129.
Stangl, W. (2011). Phasen der Gruppenentwicklung. [werner stangl]s arbeitsblätter. (Stangl, 2020).
Stangl, W. (2020). Stichwort: 'selektive Wahrnehmung'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. WWW: https://lexikon.stangl.eu/1708/selektive-wahrnehmung/ (2020-09-23).
Stangl, W. (2020). Stichwort: 'Gruppendynamik'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/2748/gruppendynamik/ (2020-10-02).
Stockowski, Margarete: Sprache. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 150-155.
Utlu, Deniz: Vertrauen. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Hengameh Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 38-55.
Wißmann, Torsten: Raum zur Identitätskonstruktion des Eigenen. Stuttgart 2011.
Yaghoobifarah, Hengameh: Blicke. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 69-81.
Yun, Vina: Essen. In: Eure Heimat ist unser Alptraum. Hrsg.: Fatma Aydemir, Yaghoobifarah. Ullstein Verlag 2019. S. 140-149.