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Das Geheimnis der Bücher

Als ich anfing zu schreiben, war ich geneigt, den „Duft der Bücher“ als Überschrift zu nehmen, weil dieser Buchtitel von Jenny Schon mich an mein Versprechen (gegenüber der Direktorin) gemahnte, über unseren Besuch im National Lyzeum „Stefan cel Mare“ in Suceava zu schreiben. Aber je mehr mein Essay-Brief Gestalt annahm, je deutlicher wurde der Titel.

Vom 3.-8. Mai 2019 organisierte der Frauenverband eine Begegnungstagung in der Süd- und Nordbukowina. Das Thema der Veranstaltung „Europäer in der Bukowina: Im Gespräch für Verständigung und Frieden“ galt zugleich als Auftrag für uns. Nach einer intensiven Vorbereitungszeit unter Federführung von Herrn Otto Hallabrin, ehemaliger Leiter des Bukowina Instituts in Augsburg, starteten wir die Begegnungen mit einer großen Offenheit und Neugierde.

Am Vormittag des 8. Mais trafen wir im National-Kolleg „Stefan cel Mare“ ein. Der Empfang für die Mitglieder und Freunde des Frauenverbandes war überwältigend und rührend zugleich; unterhalb der großen Innentreppe empfing uns ein Schülerpaar in der handbestickter Tracht der Bukowina mit Brot und Salz und entbot und den Willkommensgruß: „Bine ati venit“ / “Herzlich willkommen“. Als auch die Lehrer ein „Bine ati venit“ aussprachen wurde mir warm ums Herz. Ich konnte aus vollem Herzen antworten: „Bine v-am gasit“ / „Gut Euch (wohl-)behütet zu finden“.

Zuerst durften wir einen Blick in die ungewöhnliche Schulbibliothek werfen. Den Schülern stehen über 14.000 Bände an Fachliteratur und Belletristik zur Verfügung, darunter viele bibliophile Kostbarkeiten und Raritäten. Bei diesem Anblick hüpft jedem Bücherliebhaber das Herz vor Freude. Welche Bildungschancen ermöglicht dieser Bücherbestand den  Schülern!

Im offiziellen Verlauf folgte die filmische Auseinandersetzung der Oberschüler mit Europa. Aus der Selbstgewissheit der eigenen Identität in der rumänischen Bukowina richteten die Jugendlichen ihre Hoffnungen und Fragen auf Europa. Ich lauschte gespannt der Ernsthaftigkeit der Fragestellungen und ließ mich von der Kreativität und dem medientechnischen Können der Gestalter überzeugen. Ich will nicht verschweigen, es war wohltuend für mich, hier, im ehemaligen Siedlungsgebiet Buchenlanddeutschen der deutschen Sprache zu begegnen. Hätte jemand aus meiner Familie in dem Moment neben mir gesessen, hätte ich an diesem Tag, nach dem Empfang in der Eingangshalle, zum zweiten Mal gesagt: „Kneife mich, damit ich das was ich sehe und höre, glauben kann.“

Ich fürchte, ich hätte den oben genannten Spruch beim letzten Programmpunkt erneut wiederholen müssen. Da schwärmte der Schulchor auf die  Aula-Bühne, es waren nicht eine Handvoll, nicht fünfzehn oder zwanzig Schülerinnen und Schüler in adretten Schuluniformen, sondern über vierzig, eigentlich so viele wie die Bühne fassen konnte. Ihr Chorleiter, ein orthodoxer Pfarrer/Pope, drahtig und hochkonzentriert, entlockte dem einheitlichen Klangkörper zarte Klänge rumänischer Volkslieder und beschwingte Rhythmen moderner Lieder aus aller Herren Länder in Originalsprache.  Zuhören zu dürfen, war eine Wonne für mich und alle, die dabei waren.

Zum Abschluss wurden wir, die reich Beschenkten, erneut beschenkt: Die Schüler boten jedem Gast ein mit traditionellen Mustern aus der Bukowina bemaltes Osterei an. Draußen beim Gang zum Stadtpräfekten durch den kühlen Nieselregen, ließ ich die Erlebnisse noch einmal Revue passieren. Die Schüler und Lehrer von Stefan cel Mare präsentierten uns Bildung als einen gelungenen Spagat zwischen Tradition und Moderne, als erlebte Wissensvermittlung für das Leben. Die Lehrerkolleginnen und Kollegen mit ihrem Direktor motivierten die Schüler zu Höchstleistungen und vermittelten ihnen zugleich, dass man auf die eigenen Leistungen mit Fug und Recht stolz sein sollte. Unvermittelt musste ich an Astrid Lindgren denken: „Man kann in Kindern nichts hinein prügeln, aber vieles herausstreicheln.“

Aber auch die große Frage, die ich in der Bibliothek nicht gestellt hatte, drängte sich mir draußen lauthals auf, ehrlich gesagt, sie beschäftigt mich bis heute: Wie konnte man die „verbotenen Bücher“ in der Zeit der kommunistischen Diktatur durch Vergraben retten? Wie schützte man die Bücher gegen Feuchtigkeit? Wie war es möglich, dass ein so gewaltiges Unterfangen ausgeführt und über Jahre geheim gehalten werden konnten? Wer waren diese Menschen, die so verantwortungsvoll handelten? Gibt es Aufzeichnungen darüber? All diese Fragen und noch mehr kreisen in meinem Kopf. Falls noch nicht geschehen, wäre es doch ein lohnenswertes Forschungsprojekt für die eigenen Schüler unter Anleitung von ehemaligen Absolventen, die Geschichte studiert haben.

Diese Fragestellungen haben auch mit meiner eigenen Sozialisation zu tun. Ab Mitte der 50er Jahre hat mir meine Großmutter im Banat die Liebe zu Büchern eingehaucht. Nach der Enteignung war und bleib es für uns eine Zeit des Mangels. Ich verschlang jeden Buchzipfel, der für mich greifbar wurde. Diese Passion begleitet mich bis heute. Ich glaube, dass Lesen uns neue Horizonte eröffnet und unseren Blick für unser eigenes Leben schärft. Lesen bedeutet für mich, eine ständige Auseinandersetzung mit dem Guten, dem Schönen und dem Wahrem im Sinne von Platon.

Die Schülerschaft des National-Kollegs Stefan cel Mare und das Lehrerkollegium haben unseren Frauenverband mit der erfrischenden Gastfreundschaft tief gerührt und geehrt. Dafür möchte ich von ganzem Herzen im Namen aller Gastgebern danken! Für uns bleibt diese Begegnung eine große Bereicherung.

Gerne erwidere ich die Einladung zur Frühjahrtagung des Frauenverbandes im Jahre 2020  zum Thema „Frauen schaffen Heimat in Europa“ in der Bildungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen bei Würzburg.

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