Themen

Wie erlebte ein junger Mensch die Zeit der Diktatur?

Ich hätte nie vermutet, daβ ich irgendwann eine Zeitzeugenrolle spielen werde. Meine Erinnerungen (wie fast wie die von jedermann) sind bestimmt subjektiv und durch Nostalgie stark geprägt, weil… ich in der Zeit der Volksrepublik Polen noch jung und optimistisch war.

In diesen Zusammenhang möchte ich auch einige Vorbemerkungen machen. Nur die älteste Generation (die heute zahlenmäßig sehr klein ist) kann sich noch an den nichtkommunistischen Staat in der Zwischenkriegszeit erinnern und diesen mit dem Nachkriegsregime vergleichen. In den ersten Jahren haben fast alle Polen am Wiederaufbau spontan und voll optimistisch teilgenommen. Erst nach den Veränderungen nach stalinistischem Muster (die alle Lebensaspekte betrafen) fühlten sie sich enttäuscht und verraten. Die blutige Niederschlagung des Aufstandes in Posen im Juni 1956 hat den Polen alle Illusionen entzogen. Gegen den inneren Terror wählten sie bis ans Ende ihres Lebens eine Art von Modus Vivendi. Viele Leuten aus dieser Gruppe waren vorher arme Bauern und Landarbeiter, Industriearbeiter, und bildeten die sogenannte neue Intelligenz. Die von der Sowjetunion und der kommunistischen Parteiführung beeinflussten Parteimitglieder, für die der neue Staat einen sozialen Aufstieg bedeutete, haben bestimmt andere Erinnerungen an diese Zeitperiode. Hingegen haben sich die Leute, die nach dem Krieg geboren waren, schon ganz anders verhalten. Sie verstehen die Worte „Freiheit“ oder „Selbständigkeit“ ganz anders als die frühere Generation. Etwa wie im Gedicht von Ignacy Krasicki (ich versuche es etwas unprofessionell zu übersetzen):

„Warum weinst Du –  fragt den Alten der junge Zeisig (czyżyk),
Jetzt hast es bequemer im Käfig als im Felde draußen.
Du bist hier geboren – deswegen ich dir verzeihe,
Ich bin erst jetzt frei im Käfig und deshalb ich weine.“

Besonders in der „Gomułka-Ära“ lebten die Leute in ständiger Angst vor den Deutschen, die von der politischen Propaganda ununterbrochen angeheizt wurde. Dann auch die künstlich ausgelöste Antisemitismuswelle und die studentischen Unruhen 1968. Nach den Ereignissen in Gdinien 1970 kommt die goldene Gierek-Dekade, die sich verhältnismäßig positiv im Gedächtnis der Polen eingeprägt hat. Nach dem Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsvertrag hat sich die antideutsche Propaganda sehr verringert, die Kontakte mit Westeuropa sind intensiver geworden. Es war für mich die Lyzeum-, Studien- und Jugendzeit, also etwas Hippie-Ideologie und westliche Musik, schaffte bessere Lebensatmosphäre, besonders für junge Leute. Wir konnten endlich lange Haare und bunte Kleidung tragen, offiziell und laut westliche Musik hören. In den Läden konnte man verschiedene, auch ausländische Waren finden. Immer mehr Polen konnten mit dem eigenen Wagen „Kleiner Fiat“ fahren und populäre Fahrräder mit kleinen Reifen kaufen. Immer mehr Familien kauften russische Farbfernsehgeräte. Trotzdem hatte dieser Gierek-Staat viele dunkle Seiten. Die Partei hat weiterhin eine entscheidende Rolle gespielt. Kritik gegenüber der Sowjetunion war verboten und jeder Versuch, einen Streik oder eine Protestbewegung, wie z.B. in Ursus (nahe Warschau) und Radom 1976 wurden brutal im Keim erstickt. Die staatlichen Medien informierten darüber kaum. Es wurden auch die ersten geheimen oppositionellen Gruppierungen gegründet, mit denen die Sicherheitsdienst-Agenten kämpften. Ich habe ein paarmal mit solchen studentischen Verbänden Kontakte gehabt. Viele meiner Kollegen waren in der Partei aktiv und besuchten auch gleichzeitig die Kirchen. Sie fanden bei uns keine Achtung. Selbstverständlich sollten wir obligatorisch zum sozialistischen Studentenverband gehören. Aus diesem Verband bin ich schnell rausgeflogen, weil ich die Mitgliedsbeiträge nicht bezahlen wollte. Wir wurden auf verschiedene Arten gezwungen in die Partei einzutreten. Mein Vater als Professor hat mich jedes Mal davor geschützt. Glücklicherweise hatte ich einige Kontakte zu Studenten aus Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Deswegen musste ich natürlich auf Geheimagenten aufpassen. Dank meiner westlichen Freunde, die mir 50 Dollars geschenkt haben (dieses Geld war eine der Voraussetzungen, um einen Reisepass oder Reiseerlaubnis zu bekommen), konnte ich seit 1977 fast jedes Jahr Westdeutschland besuchen. Die Unterschiede zwischen Westeuropa und Polen war unglaublich groß, und in 80er Jahren hat sich diese Kluft noch vertieft. Stellen Sie sich bitte vor, daβ wir in Polen die Zigaretten und sogar Wodka nur mit Lebensmittelkarte kaufen konnten. Um Toilettenpapier zu bekommen, standen die Leuten in langen Schlangen. Ich erinnere mich, daβ ich fünf Stunden brauchte, um zehn Wiener Würstchen zu kaufen. Die Metzgerei war ständig leer. Das waren ehrlich schlimme und sehr schwere Zeiten. Unser Land war damals grau und traurig. Am Ende 80er Jahre hat mein Freund aus Bonn, der einen Ausflug der deutschen Jugend nach Polen organisierte, einen Antrag für eine Spende gestellt, um bunte Farbe für das Anstreichen der Häuser in Polen zu besorgen.

Wegen meiner knappen Zeit werde ich meine Erfahrungen in kommunistischer Zeit nur kurz beschreiben. Als Zeitzeuge, aber auch als Historiker kann ich darüber stundenlang sprechen.

Tagungspause: Hintergrundgespräche mit Frau Oxfort und Prof. Dr. Kołacki

Wie schätzen Sie die Rolle von Partei und Staat im Kommunismus ein?

Die kommunistische Partei (PZPR – Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) – war die bis 1989 mit quasi absoluter Macht ausgestattete, eigentlich einzige Staatspartei. Diese Partei entschied über alle politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbereiche und prägte unser Alltagsleben stark. Die ersten Parteisekretäre wurden als die wichtigsten Personen in der Welt, fast als Gott, dargestellt. Heimlich haben wir sie ausgelacht. Als ich älter war, musste ich auf solche Verhaltensweisen aufpassen, weil sich überall viele sogenannte „Geheimdienstagenten“ befanden, auch schon im Lyzeum und im Studium. Ich versuchte vorsichtig zu sein, bekam aber trotzdem wegen meiner scharfen Zunge Schwierigkeiten und wurde bestraft. Wie ich oben geschrieben habe, war ich kein Parteigenosse, hatte aber auf jeder Stufe mit Parteibehörden zu tun, weil man für jede Arbeitsstelle eine sogenannte positive Parteiempfehlung brauchte. Jede meiner Veröffentlichungen musste von der Zensur akzeptiert werden usw.

 

Haben Sie die Teilnahme an Wahlen als Möglichkeit empfunden, mitzuentscheiden?                                                                                                                                     

Als junge Leute (im Lyzeum) waren wir zum Wahlteilnahme gezwungen. Wir mussten spezielle Liste unterschreiben. Aber ich und alle meine Freunde wussten, daβ diese Wahlen keine Bedeutung sowohl für uns, als auch für die kommunistische Macht hatten und nur propagandistischen Zielen dienten. Mit Beginn des Studiums bis 1989 habe ich an Wahlen nicht teilgenommen, ähnlich wie fast alle meine Bekannten. Die Leute, die im westlichen Teil Polens geboren sind und alten ethischen Werten verbunden waren, nahmen bürgerliche Pflichten, auch die Wahlteilname, sehr ernst. Sie waren überzeugt, daβ „schlechte Macht“ trotzdem „Macht“ ist. Auch heute sagen viele Polen „schlechte Regierung, aber Regierung“, und man muss sie achten.

Die Wahlen hatten für die Gesellschaft keine auβer einer propagandistischen Bedeutung gehabt. Heute wissen wir, daβ die massenhafte Teilnahme der Polen an Wahlen nur als Argument diente, daβ die kommunistische Macht gesellschaftlich legitimiert wurde. Besonders wichtig waren hohe Teilnehmerzahlen für ausländische Beobachter zur Feststellung, daβ Polen ein voll demokratischer Staat ist.

 

Hatten Sie den Eindruck, dass Sie frei denken und handeln können im Kommunismus?

Die Antwort auf eine solche Frage ist nicht einfach. Ich persönlich kann so sagen, daβ ich frei denken, aber in keinem Fall laut darüber sprechen und noch weniger frei handeln konnte. Viele Sachen waren einfach tabu und verboten. Man könnte von Autozensur sprechen, weil alle sehr aufpassen mussten, was sie mit wem sprachen. Andererseits waren viele Menschen so tief indoktriniert, daβ sie echt glaubten, frei zu denken.

Inwieweit konnten Sie frei über Ihr Eigentum entscheiden?

Eigentlich ist das Recht auf Eigentum eines der wichtigsten Menschenrechte, als von Gott gegebenes Recht. Anderseits – theoretisch – im kommunistischen System soll eigentlich kein privates Eigentum existieren. In Polen wurde dieses Recht jedoch in breitem Umfang geachtet. Man muss die industrielle Nationalisierungsreform aus dem Jahre 1946 und die Bodenreform von 1944 (außer Kirche) erwähnen. Im Unterschied zu anderen sozialistischen Ländern ist die Kollektivierung der Landwirtschaft in Polen nicht gelungen, und die Bauern haben bis zur Wende ihr Eigentum behalten. In der stalinistischen Ära wurden die Handwerksbetriebe durch die Staatsführung zerstört und erst in den 70er Jahren wieder aufgebaut. Die Situation hat sich erst in den 90er Jahren wieder geändert. Abgesehen davon konnten kleine Werkstätten (Schuhmacher, Uhrmeister, Goldschiede, Glaser) ohne spezielle Genehmigung normal arbeiten.

 

Hatten Sie Nachteile wegen Ihrer politischen und religiösen Überzeugung?

Meisten haben die Leute ihre politischen Überzeugungen, außer innerhalb der Familien und in kleinen Freundeskreisen nicht gezeigt, um Nachteile vermeiden. Ihren Glauben zeigten sie auch nicht demonstrativ, obwohl sie oft Parteimitglied waren und gleichzeitig auch die Kirchen besuchten. Nur in Polen war ein solches Paradox möglich. 40% der Bevölkerung gehörten der Partei an und waren zugleich praktizierende Katholiken (in Polen waren über 80% katholisch). Ich erinnere mich, daβ die Kinder von Parteifunktionären es leichter in der Schule hatten und ohne Probleme studieren konnten. Beispielsweise habe ich mit der höchsten Punktezahl mein Studium beendet und keine Preise bekommen mit der Argumentation, daβ ich zu wenig politisch aktiv war (kein Parteigenosse).

 

Welche Informationsmöglichkeiten nutzten Sie im Kommunismus?

Eigentlich ganz wenige. Die erste waren die Familienerzählungen, eigentlich Gespräche zwischen meinen Eltern oder Onkeln und Tanten bei Familienfesten (Geburtstag oder Namenstag usw.), dann in der Schule, Kirche usw. Ich habe aber noch nicht viel davon verstanden. Erst im Lyzeum habe ich von einem Priester, der mir bei der lateinischen und griechischen Sprache geholfen hat, sehr viele neue Informationen bekommen. Er hat mir eigentlich die Augen geöffnet. Nach einem Jahr war ich ein ganz anderer Mann geworden. Den Sender „Radio Freies Europa“ aus München habe ich nie selbst gehört. Während meines Studiums besuchte ich mit spezieller Erlaubnis einen bestimmten Teil der Universitätsbibliothek, wo sich die verbotenen, auch ausländischen Bücher befanden.

Soviel ich mich erinnere, konnte man seit den 60er Jahren in jedem Haus und jeder Wohnung Radio- und Fernsehgeräte finden, aber sie dienten nur der staatlichen Propaganda. Bis zum Anfang der 90er Jahre gab es für durchschnittliche Polen nur offizielle Radio- und Fernsehsendungen. Zur „Solidarność“-Zeit konnte man von Zeit zu Zeit oppositionelle Sendungen hören und Flugblätter lesen, manchmal auch Bücher. Sehr wichtig waren für einige Kreise auch direkte Kontakte zu Leuten aus Westeuropa. Die waren nach der Rettungsaktion der Deutschen für polnische Familien am Anfang der 80er Jahre ziemlich intensiv. Viele deutsche und polnische Familien haben sich kennengelernt und befreundet (oft auch bis heute).

 

Wie schätzen Sie den Personenkult im Kommunismus ein?

Wenn es um Personenkult geht, wurde nur Josef Stalin kurz ein echtes Idol in einem Teil der polnischen Bevölkerung. Ein Teil hatte Angst vor Władysław Gomułka, andere lachten ihn aus, und viele haben ihn gehasst. Nur Edward Gierek war einige Jahre echt populär, besonders bei Bergleuten aus Schlesien, woher er stammte. Also von einem richtigen Kult kann man nicht sprechen.

 

Bereich Bildung

Welche Erinnerungen haben Sie an das Schul- und Bildungssystem?

Mit dem Thema meiner Erinnerungen an Schul- und Studienjahre will ich lieber überhaupt nicht beginnen. Nur ein paar Worte aus heutiger Perspektive, denn viele Sachen habe ich als Kind und Knabe nicht gesehen und nicht verstanden: Ungerechtigkeit, totale politische Instrumentalisierung, viele Zwangspflichten für „unser sozialistisches Vaterland“, wie die Teilnahme an sozialistischen Feiertagen: 1. und 8. Mai, 22 Juli; dann „czyn społeczny“, das bedeutet Rekrutierung für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Sonnabend, Kartoffel- oder Apfelernte usw.

Die Lehrer haben uns sehr oft geschlagen, besonders in den ersten Schulklassen. Im Lyzeum konnte man schnell wegen politisch (aber nicht nur) unkorrektem Verhalten eine sogenannte „Wolfskarte“ (wilczy bilet) bekommen, was bedeutete, daβ alle Schulen und Studien für solche Schüler gesperrt waren. Die Miliz war brutal und vulgär. Am Ende der achten Klasse haben zwei Milizionäre mich, als ich um neun Uhr abends aus dem Kino gekommen bin, festgehalten und mit einer Schneiderschere meine lange Haare abgeschnitten. Ich und meine Eltern konnten nichts dagegen machen. Die Situation hat sich mit dem beruflichen Aufstieg und der damit verbundenen Parteimitgliedschaft meines Vaters geändert.

 

Welche Fächer waren aus Ihrer Sicht von der kommunistischen Ideologie beeinflusst?

Wieder kann ich nur als Historiker auf die Frage antworten, obwohl ich sie einerseits einfach und andererseits sehr schwierig finde. Der Einfluss hat alle Lebensbereiche, jeden Aspekt des Alltagslebens umfasst. Ich kann darüber ein langes Buch schreiben.

 

Welche Rolle spielten die kommunistischen Jugendorganisationen im Schulleben?

In der Grundschule (schon ab der ersten Klasse – 7 Jahre alt) hat die Pfadfinderbewegung (harcerstwo) die wichtigste Rolle gespielt. Die Teilnahme war theoretisch freiwillig. Ich gehörte den Pfadfinder-Scharen nicht an, weil meine Groβmutter mich als Ministrant in der Kirche sehen wollte. Im Lyzeum weigerte ich mich, dem Sozialistischen Jugendverband anzugehören. Genauso war ich im Sozialistischen Studentenverband nur ein paar Monate (ich wurde aus dieser Organisation rausgeschmissen, weil ich keinen Mitgliedsbeitrag bezahlt habe). Ich muss offen sagen, daβ ich eigentlich nicht sehr stark gezwungen wurde, außer zur Teilnahme am Schulchor. Wegen meines Widerstands habe ich im Lyzeum einige Schwierigkeiten gehabt. Ich musste auch Sport treiben, aber das habe ich das nicht als Zwang empfunden. Ich bin als Läufer Landes-, Wojewodschaftsmeister und Vizemeister Polens geworden.

 

Aufgrund welcher Kriterien wurde entschieden, welche Schüler eines Jahrgangs studieren dürfen?

Wieder ganz kurz über die Kriterien: Erstens: Keine Bedenken wegen Nationalität (die Schlesier, die oft als Deutsche identifiziert wurden, hatten natürlich wenig Chancen für ein Studium). Zweitens: Soziale Herkunft: Die Jugendlichen aus Bauern-und Arbeiterfamilien bekamen zusätzliche Punkten und dann bessere finanzielle Hilfen. Die Kandidaten aus Intelligenzfamilien mussten eine gute Aufnahmeprüfung ablegen. Natürlich hatten die Töchter und Söhne von Parteikadern keine Probleme, das zu studieren, was sie wollten.

 

Gab es Veranstaltungen der Jugendorganisationen, die Sie gut fanden – welche haben Ihnen weniger gut gefallen?

Es ist nicht die Frage für mich, weil ich zu jeder Organisation, auch kirchlichen, Abstand gehalten habe. Ich mag keine Jugendverbände und ihre Veranstaltungen. Ich habe meine freie Zeit selbst organisiert, z.B. Pferde und Reitsport. Einige Zeit habe ich das Voltigieren betrieben. Ich habe schon über andere Sportdisziplinen erzählt. Ich habe auch gemalt und kleine Skulpturen geschnitzt, die ziemlich oft ausgestellt wurden. Ich habe ganz gutes Geld verdient und konnte etwas davon für mein Studium sparen. Also habe ich mich in meine innere Welt zurückgezogen. Ich kann auch von meinem Schiffshund erzählen, mit dem bin ich täglich 2-3 Stunden gelaufen.

Comments are closed.