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Rede der Ehrenpräsidentin des Frauenverbandes im BdV e.V. zu Nationalem Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2025 im Konzerthaus Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,
Stellvertretend für alle Ehrengäste aus Politik, Gesellschaft und den Verbänden begrüße ich die Bundesministerin für Bildung und Familie Frau Prien und den Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedler und nationale Minderheiten und Präsidenten des Bundes der Vertriebenen Dr. Bernd Fabritius.

Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, schreibt der jüdische Gelehrte Baal Schem Tov.
Für uns als Vertriebene und Aussiedler gilt die Aussage in besonderer Weise. Deshalb danke ich den drei Frauen, die den Mut aufbringen, sich ihren Erinnerungen zu stellen. Danke meine Damen, für Ihre Bereitschaft Ihre Erfahrungen mit uns zu teilen! Mein Dank inniger Dank gilt der Leiterin des Protokollamtes im Bundesinnenministerium Frau Eleonore Petermann, weil sie den Impuls, Frauen als Zeitzeuginnen zu Wort kommen zu lassen, aufgegriffen hat.
Wir als Deutsche brauchen Anstand und innere Stärke, um uns der dunklen Zeiten in unserer Geschichte zu erinnern.
Mit dem Angriff auf Polen im September 1939 startete NS-Deutsche Reich einen furchtbaren Krieg in dem die Bevölkerung in den besetzten Ländern mit Gewalt und Terror überzogen wurde.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Europa 50 Millionen Tote zu beklagen, knapp die Hälfte davon die Sowjetunion. 6 Millionen Juden wurden durch die Nationalsozialisten ermordet.
14 Millionen Deutsche wurden vertrieben. Zwei Millionen überlebten die Flucht nicht.
Die KZ-Überlebenden, Internierte, Zwangsarbeiter und die Verfolgten des NS-Regimes erlebten den 8. Mai als Tag der Befreiung von der Hitlerdiktatur. Nach dem Sieg über die NS-Diktatur war Deutschland ein besetztes Land. Bei den Menschen verstärkten die materielle Not und die Scham das Bewusstsein der Verantwortung für den sinnlosen Krieg.
Für die Deutschen in Mitteldeutschland, sprich spätere DDR und alle verbliebenen Deutschen in den Sattellitten Staaten der Sowjetunion und in derselben wurde das totalitäre NS-System durch kommunistische Gewaltherrschaften ersetzt. Die Deutschen verloren ihre Bürgerrechte und Ihr Eigentum. Sie wurden in Lagern interniert und deportiert. Sie erlebten Gewalt und Terror und wurden zu Fremden im eigenen Land. Denn neben ihrer materiellen Lebensgrundlage büßten sie ihren sozialen Status und die willkürliche Zerstörung ihrer sozialen Netzwerke ein. Einen Höhepunkt erreichten die Grausamkeiten der Tito Partisanen in den jugoslawischen Vernichtungslagern für die Donauschwaben. Die Leiden der deutschen Deportierten in den stalinistischen Arbeitslagern schildert die Banater Nobel Preisträgerin Hertha Müller in ihrem Roman „Die Atemschaukel“.
Da die Männer im Krieg waren, trugen zumeist die Frauen während der Flucht und bei der Ankunft im Westen die Last für den Schutz, die Verpflegung und die Unterbringung ihrer Kinder und älteren Familienmitglieder. Frau Lubich von Milovan verweist in dem Filmausschnitt auf die alleinige Anwesenheit von Frauen. Viele waren oft über Monate auf der Flucht. Sie waren ausgehungert, die Kleider zerschlissen; Läuse, Wanzen und Epidemien grassierten.
Von den Einheimischen in den zerbombten Städten im Westen wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Denn sie waren eine Konkurrenz um knappe Nahrungsmittel, fehlenden Wohnraum, Kleidung und Arbeitsplätze. Sie erlebten die „Kalte Heimat“, wie sie Andreas Kossert beschrieben hat. Bis heute gibt es jedoch viele Vertriebene, die über helfende Hände und offene Herzen bei den Einheimischen berichten.
Der tägliche Kampf um das Überleben der Familien zu sichern, erforderte von den Frauen schier übermenschliche Anstrengungen, Disziplin und Verzicht. Sie waren stets bemüht, sich in Gefahrensituationen stark und schützend vor ihre Kinder zu stellen. Baronin von Sass sagte im Film über ihre Mutter, „sie hatte Hungerödeme und Selbstmordgedanken“. Die Aussage zeigt, wie oft die anhaltenden unmenschlichen Herausforderungen die Grenze des menschlich Erträglichen überschritten. Die eigenen Tränen hielten die Frauen für die dunklen Nachtstunden zurück. In tiefster Not fanden sie Zuflucht im Gebet, in der Restfamilie und bei den Leidensgefährtinnen.
Bei Tod oder Krankheit der Mutter übernahmen die ältesten Kinder die elterlichen Aufgaben. Die Publizistin Helga Hirsch spricht in diesem Zusammenhang von Parentifizierung, das bedeutet eine Umkehr der sozialen Rollen. Dabei übernahmen die älteren Kinder die Verantwortung für ausfallende Eltern und kleinere Geschwister. Um das materielle Überleben der Familie zu sichern, waren die Kinder der Vertriebenen gezwungen, früh einem Broterwerb nachzugehen. In Schule und Lehre bemühten sie sich, die offensichtliche Armut und das fehlende soziale Ansehen durch Leistung wettzumachen. Die Folgen dieser Verdrängung und des Leistungsdrucks waren oftmals Angstzustände, Konzentrationsprobleme und Schlafstörungen. Im Grunde wurde durch Krieg und Vertreibung eine ganze Generation ihrer Kindheit beraubt.
Wir sollten uns heute fragen, was die Erfahrungen der Vertreibung in der Psyche von Frauen, Kindern und Männern bewirkten? Als Christen kennen wir die Vertreibung aus dem Paradies, die mit dem Makel der Erbsünde belegt ist. An diesem Makel litten die Vertriebenen, besonders diejenigen, die die Gebote des Zusammenlebens mit anderen Ethnien respektiert hatten. Mit Gewalt aus der Heimat verjagt, überall unerwünscht, ausgegrenzt zu werden, schaffte Wunden, die oft ein Leben lang nicht verheilt sind. Sie wurden vertieft durch Gefühle von Schmerz, Scham, Ohnmacht, Erniedrigung, Orientierungslosigkeit und einer anhaltenden Instabilität. Denn es gelang bei Weitem nicht allen, in der Fremde Fuß zu fassen.
Viele Frauen erlebten Gewalterfahrungen während der Flucht und Vertreibung. Vergewaltigungen waren lebensbedrohlich. Manche starben an den Folgen der Misshandlungen; andere begingen Selbstmord, weil sie die seelischen Verletzungen und die Scham nicht ertragen konnten. Oft wurden die traumatischen Erfahrungen noch durch Demütigungen aus dem eigenen Umfeld bestärkt. In kleinen Kreisen thematisierte man zeitnah die Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt als kollektives Schicksal. Krankenschwestern und kirchliche Gemeindesschwestern wurden ins Vertrauen gezogen. Doch dann breitete man den Mantel des Schweigens über die Geschehnisse aus. Erst in den 90er Jahren als im Jugoslawienkonflikt Informationen über die Vergewaltigung der bosnischen Frauen an die Öffentlichkeit drangen, brachen die seelischen Wunden bei den vertriebenen und deportierten Frauen erneut auf. Das Leid der Bosnierinnen regte ihre Hilfsbereitschaft an.
Jetzt reifte bei den Frauen die Entscheidung, über ihre tiefgreifenden erniedrigenden Erlebnisse zu sprechen. Frau Sibylle Dreher als damalige Präsidentin im Frauenverband im Bund der Vertriebenen griff die Entwicklung auf. In den Veranstaltungen des Frauenverbandes bot sie den Frauen einen vertrauten Raum, um im Gespräch mit Therapeuten ihre Erfahrungen zu verbalisieren und die Auswirkungen der Gewalterfahrungen auf ihr Leben zu reflektieren. Es waren tiefgehende, aufwühlende Gesprächssituationen, die an alte Wunden rührten und heilsam sein konnten. In der Folge gab Frau Dreher eine Studie in Auftrag, in der deportierte Frauen über ihre Erfahrungen in den sowjetischen Zwangsarbeiterlagern berichten.
Beim Wiederaufbau wurden die Trauerarbeit und das Aufarbeiten der traumatischen Erlebnisse durch die Anstrengungen für das materielle Überleben verdrängt. Prof. Hartmut Radebold als Nestor der deutschen Trauma Forschung schätzte, dass ca. 80 % der Vertriebenen ihre Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit verschwiegen haben. Ein Drittel von ihnen sind vom Posttraumatischen Syndrom belastet. Ihre Kinder haben oft diffuse Verhaltensweisen wie beharrliches Schweigen oder Verbitterung wahrgenommen, die sie nicht verstehen und nicht deuten konnten.
Forschungen belegen, dass die Generationen sich nicht voneinander abgrenzen können. Sie sind miteinander verbunden, auch durch nonverbale Kommunikationsstrukturen. Unverarbeitete Traumata übergehen von der Nachkriegsgeneration auf die Nachkommen. Neueste epigenetische Forschungen belegen, dass traumatische Erlebnisse der Großmutter selbst im Erbgut der Enkelin durch die Genregulierung unter bestimmten Voraussetzungen aktiviert werden können.
Die Frage bleibt, wie können wir den transgenerationalen Kreislauf unterbrechen? Professor Radebold forderte die Erlebnisgeneration zum Sprechen auf. Und zum Erforschen der Auswirkungen des Traumas das auf das Leben der Nachkommen. Er mahnte die Vermittlung von zeithistorischen Kenntnissen für das Personal von medizinischen und sozialen Einrichtungen an. Der jüdische Arzt und Psychotherapeut Hans Keilson, schlussfolgerte aufgrund seiner Arbeit mit jüdischen Kindern, die den Holocaust überlebten, dass die traumatische Erfahrung in einer Atmosphäre des Vertrauens, des Zuspruchs und des Angenommenseins geheilt, aber bei gegenteiligen Bedingungen verstärkt werden kann. Die Berliner Schriftstellerin Jenny Schon schreibt sich das Trauma der Vergewaltigung ihrer Mutter und der rheinischen Beschimpfung als Pimock von der Seele.
Die Kulturwissenschaftlerin Prof. Aleida Assmann betonte, dass die Heimatvereine den Vertriebenen einen vertrauten Raum als eine Art Ersatzheimat bieten. Aber Vertriebene und Aussiedler brauchen mehr als vertraute Nischen. Sie sind auf das Vertrauen und die Anerkennung der Gesamtgesellschaft angewiesen.
Das entspricht den Vorgaben des Kulturparagraphen § 96 aus dem BFVG zur Verankerung des Kulturgutes aus den Herkunftsgebieten im Bewusstsein der Vertriebenen und aller Deutschen.
80 Jahre nach Krieg, Vertreibung und Deportation müssen wir fragen, was im Bewusstsein der deutschen Gesamtgesellschaft von der Kultur und Geschichte der Deutschen aus dem Osten angekommen ist. Wie viel Kenntnis, Anerkennung und Wertschätzung werden den Vertriebenen, den Aussiedlern und ihren Nachkommen von der Gesamtgesellschaft entgegengebracht?
Mit ihrer Charta optierten die Vertriebenen entschieden für Verzicht auf Rache und für die Versöhnung mit ihren Heimatländern, für den Einsatz aller ihrer Kräfte zum Wiederaufbau Deutschlands und für ein einiges Europa sowie für die bis heute vehement von unserem Präsidenten Dr. Fabritius geforderte weltweite Ächtung von Vertreibungen und die Anerkennung des Heimatrechts. Mit diesen Forderungen waren die Vertriebenen dem Zeitgeist weit voraus. Prof. Lammert als Präsident des Bundestages ordnete die Charta der Vertriebenen den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik zu.
Doch die Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und der Charta sind nicht verbindliche Teile des schulischen Curriculums für den Geschichtsunterricht. Wir haben keinen einzigen Lehrstuhl für die Geschichte der deutschen Vertreibung an deutschen Universitäten, abgesehen von einer Kooperation des hessischen BdV mit hessischen Universitäten. Dagegen gibt es 34 Studiengänge an 25 bundesdeutschen Hochschulen zu den Themen Migration und Diversität.
Dieser Exkurs zeigt eindeutig, dass die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und das Wissen über ihren großartigen Kulturschatz und die Persönlichkeiten, die Wissenschaften und die Kultur förderten, 80 Jahre danach, nicht im Bewusstsein unserer Gesellschaft verankert ist.
Nun liegt es an uns, diesen Prozess ernsthaft voran zu treiben. Wir schulden die Aufklärung und die Anerkennung all jenen, die dieses Land aufgebaut haben. Und wir schulden die Aufklärung unseren Nachkommen. Sie brauchen Klarheit.
Die Vernissage der Ausstellung der originalen Bilder „Der Treck“, die die Direktorin der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und ihr Team am Vorabend organisierten, fand das Interesse eines mehrheitlich jungen Publikums. Das belegt den Fragedurst unserer Nachkommen.
Sie und wir alle brauchen die Zusicherung der gesamten Gesellschaft, dass unsere Geschichte und unsere Erinnerungskultur beständiger Teil der deutschen Gesamtgeschichte und der deutschen Erinnerungskultur sind. Wir brauchen die Gewissheit, dass unsere Geschichte wert ist, tradiert, erforscht und geschrieben zu werden.
Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung.
Die Aussage bezieht sich nicht nur auf unsere eigene Geschichte. Sie schließt die anfänglich schmerzliche und bis heute hoffnungsvolle Geschichte der Versöhnung und des kontinuierlichen Dialogs mit unseren Heimatländern ein. Wir als Vertriebene bauen Brücken mit und zu unseren Nachbarn in Europa. Mit den Versöhnungsgeschichten schaffen wir das Fundament für den Frieden, den wir alle, besonders die Menschen in der Ukraine und im Nahen Osten zum Leben brauchen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

Foto: Ehrenpräsidentin Dr. Maria Werthan, Schatzmeisterin Heidrun Ratza-Potrÿkus, Präsidentin Hiltrud Leber

Ehrenpräsidentin Dr. Maria Werthan, Schatzmeisterin Heidrun Potrÿkus, Präsidentin Hiltrud Leber

Foto: Frauengruppe des Frauenverbandes

Fotos: Christina Lind

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